Krankenhausbewegung in Berlin: Die Krankheit heißt Kapitalismus
Vivantes versucht, die von den Beschäftigten erkämpften Erfolge zu unterlaufen. Das ist so vorgesehen im durchökonomisierten Gesundheitssystem.
E s ist eine Platitude geworden zu schreiben, dass diejenigen, die sich in dieser Gesellschaft um die Kranken und Schwachen kümmern, immer nur beklatscht, aber nicht entlastet werden. Es hört aber nicht auf wahr zu sein. Jede noch so kleine Verbesserung müssen sich die Klinikbeschäftigten selbst erkämpfen. Von der Politik kommt so gut wie keine Unterstützung und von den Klinikleitungen erst Recht nicht. Im Gegenteil: Neun Monate nach dem Berliner Krankenhausstreik bekämpft die Chefetage des kommunalen Klinikkonzerns Vivantes immer noch jeden Fortschritt.
Sieben lange Wochen Streik hatten die Beschäftigten der Charité und Vivantes vergangenes Jahr gebraucht, um einen Tarifvertrag Entlastung für die Pflegenden und eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) für die Beschäftigten der Tochterunternehmen zu erstreiten. Nach diesem Kraftakt müssen sich die Arbeiter:innen gedacht haben: „Geschafft!“. An diesem Punkt befinden sich derzeit die Pfleger:innen aus NRW, die zuletzt elf Wochen für ihre Entlastung streikten.
Doch der Atem der Kapitalist:innen ist lang. Eine Niederlage ist für sie nie ein grundlegender Richtungswechsel, sondern nur ein taktischer Rückzug, um unter anderen Bedingungen – und seien es schlechtere – weiter das Maximum aus ihren Arbeiter:innen herauszupressen. Das war schon immer so. Doch in den zweieinhalb Jahren Pandemie wurden die Pfleger:innen derart beklatscht und ihre Arbeitsbedingungen derart bemängelt, dass einige in der Krankenhausbewegung dachten, ihr Streik könnte die Arbeitgeber:innen zu einem grundlegenden Sinneswandel bewegen.
Dem war nicht so. Wie die Gewerkschaft Verdi beklagt, versucht Vivantes den Tarifvertrag Entlastung in vielen kleinen Trippelschritten zu unterlaufen: Ob durch eine minutengenaue Erfassung der Unterbesetzung, sodass auch ja nicht eine einzige Minute zu viel entlastet wird; ob durch Stationsleitungen, die sich so eintragen, dass Mindestbesetzungen formal hergestellt werden; ob durch geschicktes Personal-hin-und-her-Geschiebe oder dadurch, dass jedes Wort im Vertrag umgedreht wird, um manche Berufsgruppen doch noch aus den Verbesserungen auszuschließen – nichts wird gegönnt. Alles was bekämpft werden kann, wird auch bekämpft, heißt es aus der Krankenhausbewegung.
Noch schlimmer sieht die Situation bei den Tochterunternehmen aus, die ohnehin nur gegründet wurden, um die Löhne drücken zu können. Laut Verdi versucht Vivantes die Belegschaft zu spalten. In den Nachverhandlungen wäre einem Teil der Beschäftigten ein besseres Angebot gemacht worden. Alle anderen würden zwar nicht leer ausgehen, erhielten aber deutlich weniger. Auch für neue Beschäftigte würden manche Verbesserungen nicht gelten. Statt gleichem Lohn für gleiche Arbeit schafft Vivantes also einen Tarifdschungel, der so viel Verwirrung und Frustration in der Belegschaft stiftet, dass die Klinikleitung mit dem Plan sogar durchkommen könnte.
Auch die Pfleger:innen in NRW sollten sich notieren: Der Konflikt hört mit dem Streikerfolg nicht auf. Tatsächlich wird der Kampf so lange weiter gehen, bis der Kapitalismus endgültig aus den Kliniken vertrieben wurde.
Das System ist eigentlich für niemanden gut
Dass dieser dort ohnehin nichts zu suchen hat, wissen wohl auch die Klinikleitungen – insbesondere die der kommunalen Krankenhäuser. Sie wissen um ihre eigene Unterfinanzierung, die sie dazu zwingt, für Personalkosten gedachte Kassengelder zur Instandhaltung ihrer Gebäude zweckzuentfremden. Sie wissen, wie sie ihre Arbeiter:innen dazu treiben müssen, mehr Patient:in in kürzerer Zeit zu behandeln. Sie wissen, dass dieses System weder gut ist für die Patient:innen, noch für die Arbeiter:innen, noch für die Gesellschaft und auch nicht für ihren eigenen Seelenfrieden. Doch sie sind in die Zwänge des Kapitals eingebunden, aus denen sie nur die Politik befreien kann.
Es greift deshalb zu kurz, die Moralkeule in Richtung Vivantes zu schwingen. Denn der Skandal ist nicht nur, dass sich die Klinikleitungen verhalten wie Kapitalist:innen, sondern auch dieses Gesundheitssystem, welches die Klinikleitungen dazu zwingt, sich wie solche zu verhalten. Mitverantwortlich für diese Misere ist also die Politik: Die rot-grün-rote Landespolitik, aber im besonderen Maße Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der sich einfach weigert, das Gesundheitssystem endgültig und konsequent zu entökonomisieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure