Krankenhaus-Reform: Die Verschlimmbesserung
Lauterbachs Gesetzesentwurf soll die Versorgung effizienter gestalten. Doch die Berliner Kinderkliniken könnten zu den Verlierern des Gesetzes gehören
„Wir mussten im letzten Winter schon triagieren. Welches Kind braucht in der Nacht eine Atemversorgung, welches nicht?“, sagt Songül Yürek, Kinderärztin und Sprecherin der Initiative der Berliner Kinderkliniken, auf einer Pressekonferenz des KHVVG-kritischen Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“. Die Kindernotfallversorgung überschreite jedes Jahr ihre Belastungsgrenze, sagt Yürek am Dienstag. „Weil wir keine freien Betten mehr hatten, mussten wir Kinder nach Bernau und Nauen verlegen.“
Die Krankenhausreform könnte die Situation noch verschlimmern, befürchtet Yürek. „Wir werden vielleicht nicht geschlossen, aber die Belastung wird definitiv größer, weil wir die Menschen aus dem Umland mit versorgen müssen.“
Der Grundgedanke von Lauterbachs ambitioniertem Reformprojekt ist es eigentlich, die Gesundheitsversorgung effektiver und qualitativer zu organisieren. Im internationalen Vergleich hat Deutschland überproportional viele Krankenhäuser, ist bei der Versorgungsqualität aber eher durchschnittlich. Der Grund: Das derzeitige Fallpauschalensystem (DRG) belohnt aufwendige Spezialbehandlungen. Da Krankenhäuser ökonomisch nicht darauf verzichten können, bieten selbst kleinere Kliniken Behandlungen an, für die sie eigentlich nur unzureichend Kompetenz haben, und schaffen Geräte an, für die sie eigentlich kein Geld haben.
Kahlschlag droht
Mit der Einführung der sogenannten Leistungsgruppen will das KHVVG mit diesen Fehlanreizen aufräumen. In Zukunft sollen nur noch Häuser spezialisierte Behandlungen, etwa bei Krebs, Schlaganfällen oder Hüftoperationen durchführen können, die bestimmte Qualitätsmerkmale erfüllen. Zum Beispiel eine eigene „Stroke Unit“ im Falle von Schlaganfällen. Durch die Bündelung von Kompetenz und teurem Equipment soll die Qualität verbessert und Kosten minimiert werden.
Kritiker:innen, wie Verdi-Sekretär Peter Hoffmann, befürchten, dass mit der Spezialisierung ein Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft einhergeht. „Insbesondere kleinere Häuser werden Leistungsgruppen verlieren und damit die nötigen Erlöse nicht mehr erwirtschaften können.“
Dementsprechend ist die Sorge bei den privaten Trägern groß: „Geht die Entwicklung im Krankenhaussektor so weiter, droht frei-gemeinnützigen Kliniken vielerorts das Ende“, sagte Christian Friese von Berlins DRK-Kliniken in einem Tagesspiegel-Interview Anfang Juni. Das DRK betreibt in Berlin drei kleinere Häuser in Wedding, Westend und Köpenick.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, das mit der Reform die marktorientierte Logik des bestehenden Fallpauschalensystems nicht gebrochen wird. Für Kliniken ist es weiterhin ökonomisch am sinnvollsten, möglichst viele lukrative Spezialbehandlungen durchzuführen. Die Grundversorgung bleibt hingegen auf der Strecke. Besonders die Kinderkliniken galten bisher als große Verlierer des DRG-Systems. „Kinder werden akut krank, planbare Operationen gibt es kaum“, erklärt Kinderärztin Yürek. Demnach seien die Vorhaltekosten im pädiatrischen Bereich besonders hoch. Um Spitzen wie bei der jährlichen Erkältungswelle im Winter abzufangen, braucht es im Sommer leere Betten. Doch durch den Ökonomisierungsdruck seien in den letzten 30 Jahren bereits ein Drittel der Betten verloren gegangen, obwohl es heute mehr Behandlungen gebe, sagt Yürek.
Die Kritiker:innen erwarten bei der Umsetzung der Reform einen Konkurrenzkampf unter den Kliniken um Leistungsgruppen, infolgedessen weniger profitable Bereiche wie die Kinderversorgung vernachlässigt werden. Statt weiter auf Marktlogik zu setzen, schlägt Verdi eine volle Übernahme der Personalkosten vor, unabhängig von den durchgeführten Behandlungen. „Unsere Forderung ist die Selbstkostendeckung“, sagt Peter Hoffmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene