Koranschüler in Nigerias Coronakrise: Wie lästige Insekten
In Nigeria gehen kleine Kinder aus bitterarmen Familien zur Koranschulen und schlagen sich als Bettler durch. Sie sind unsichtbare Opfer der Coronakrise.
Dass die Koranschüler in Nigeria für Unheil verantwortlich gemacht werden, ist nicht neu. Seit Jahren heißt es, dass sie sich leicht von der Terrormiliz Boko Haram rekrutieren lassen. Nun soll es Covid-19 sein. Die Gouverneure im muslimisch geprägten Norden haben deshalb entschieden, die Kinder in ihre Heimatbundesstaaten zu deportieren. „Sie müssen aus der Obhut ihrer Lehrer zurück in die Obhut ihrer Eltern“, rechtfertigt das Nasir El-Rufai, Gouverneur des Bundesstaates Kaduna, während einer Onlinekonferenz.
Freiwillig ist die Rückführung nicht erfolgt. Es wird berichtet, dass an manchen Orten die Polizei die Kinder dazu zwang. In Quarantänezentren gelten die Bedingungen als miserabel und die Kinder werden nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Manche Bundesstaaten weigern sich, Almajirai überhaupt aufzunehmen. Geklärt wurde außerdem nicht, ob sie zurück zu ihren Eltern können.
Nun werfen sich Nigerias Bundesstaaten gegenseitig vor, angeblich positiv getestete Kinder zurückzuschicken. Balarabe Musa, früherer Gouverneur von Kaduna, nannte die Aktion in einem Interview „unverantwortlich und gegen die nationale Einheit gerichtet“.
Angeheizt hat die Diskussion noch etwas anderes: Wieder einmal wird über ein generelles Verbot des Almajiri-Systems und eine Reform des Bildungswesens gesprochen. Mehrere Bundesstaaten im Norden Nigerias arbeiten daran bereits.
Das „Almajiri-System“
Das Almajiri-System ist nach Angaben von Sheik Nuruddeen Lemu, Forschungs- und Ausbildungsleiter am Da’wah Institute in Minna im Bundesstaat Niger, 300 Jahre alt. Eltern aus ländlichen Regionen schicken ihre Söhne zu Imamen in den Städten, um Religion, Mathematik und Recht zu lernen.
Mit der britischen Kolonialzeit und dem Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen, staatlicher Schulen und dem Wechsel zu Englisch als Bildungssprache wurden die Koranschulen zunehmend unwichtiger. Auf dem Arbeitsmarkt können Jugendliche mit einer alleinigen Ausbildung in einer Koranschule nicht mit anderen konkurrieren.
Dass sich die traditionellen Schulen dennoch halten, liegt an der Armut in den ländlichen Regionen. Auch sei der schlechte Zugang zum Bildungssystem generell mitverantwortlich, sagt Peter Hawkins, Repräsentant des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Nigeria. In den vergangenen Jahren haben Angriffe der Terrormiliz Boko Haram dieses Problem noch verschärft: Mehr als 800 staatliche Schulen bleiben im Nordosten des Landes geschlossen.
Nach Einschätzung von Gouverneur El-Rufai sind es vor allem die Väter, die ihre Söhne weggeben: Männer, die monatlich über 10.000 Naira (23 Euro) verfügen, davon aber vier Frauen und zehn Kinder ernähren müssten. „Sie geben alle Verantwortung an den Imam ab“, sagt er. Der schickt die Jungs auf die Straßen, damit sie sich die in Kaduna übliche „Mittwochs-Bezahlung“ in Höhe von 200 Naira leisten können, so der Gouverneur. Auch werden die Kinder zu Veranstaltungen geschickt, um Koranverse aufzusagen, was ebenfalls Geld einbringt.
Die Grundversorgung der Kinder ist oft miserabel. In mehreren Regionen wurden im vergangenen Jahr sogar Folterkammern entdeckt, die als Koranschulen getarnt waren. Bei Razzien befreite die Polizei Hunderte Jugendliche und junge Erwachsene. Viele hatten Narben von Schlägen, manche waren angekettet.
Um das Almajiri-System zu ändern, hat es in den vergangenen Jahren immer wieder vorsichtige Vorstöße gegeben. Doch nach Einschätzung von Mohammed Sabo Keana, Gründer der Initiative für die Rechte des Almajiri-Kindes (ACRI) fehlt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Für die Kinder sieht er den Staat, die Eltern und die Gesellschaft in der Pflicht.
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