Konsequenzen aus Fall Yagmur: „Eine ernsthafte Erkrankung“
Die Bindungsstörung der Mutter hätte erkannt werden müssen, sagt der frühere Jugendhilfe-Chef Wolfgang Hammer. Er bezweifelt, dass die Frau in Haft gehört.
taz: Herr Hammer, Sie nehmen heute teil an einer Fachtagung zu möglichen Konsequenzen, die der Tod der kleinen Yagmur für das Pflegekinderwesen hat. Anlass ist der Bericht, den der Parlamentarische Untersuchungsausschuss erarbeitet hat. Wie finden Sie den?
Wolfgang Hammer: In dem Bericht steht nichts Falsches. Was mir fehlt, ist die Frage: Welche Haltung nehmen ich ein? Im Grundgesetz ist ein Elterngrundrecht verankert, aber kein Recht der Kinder. Gerade erst gab es wieder ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Familiengerichte dürfen ein Kind nur dann von den Eltern trennen, wenn die „Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten“. Es gibt also kein eigenes Recht eines Kindes auf Bildung und Förderung unabhängig von den Eltern. Oder auf einen Schutz von Bindung und Schutz vor Bindungsstörungen.
Bei dem Karlsruher Urteil geht es um die geistige und seelische Entwicklung, nicht um körperliche Misshandlung. Was hat das mit Yagmur zu tun?
Wenn wie bei Yagmur eine Staatsanwaltschaft ein Verfahren einstellt, ist das für das Jugendamt ein Beleg dafür, dass keine schwerwiegende Kindesmisshandlung vorliegt. Ich bin dennoch überzeugt, dass die fehlenden Kinderrechte im Grundgesetz hier eine Rolle spielten. Weil das Grundgesetz auch die Haltung in den Köpfen der Sozialarbeiter bestimmt.
Wie meinen Sie das?
Ich war von 2006 an auch Sprecher der Länder für Kinderschutz und habe mit der Aufarbeitung vieler Todesfälle wie Kevin oder Lara-Mia und Chantal zu tun gehabt. Die Familienhelfer waren bemüht, einen guten Kontakt zu den Eltern zu haben, und verloren dabei den Blick auf das Kind. Ich nenne das falsche Gutmenschen-Sicht.
Auch bei Yagmur?
Yagmur war zwei Jahre in einer Pflegefamilie und wurde dann zu den Eltern zurückgeführt. Es wurde von der Seite der Elternrechte geguckt.
67, Ex-Sprecher der Länder für Kinderschutz, leitete bis März 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Sozialbehörde, Der promovierte Soziologe und Pädagoge verfasste seit 1974 über 100 Veröffentlichungen zu Kinder- und Jugendpolitik.
Die Mutter gab Yagmur nach der Geburt freiwillig in Pflege. Hätte sie das auch getan, wenn eine Rückführung nicht möglich ist?
Eine Rückführung von einem Kind, das zwei Jahre alt ist und Bindungen aufgebaut hat, ist problematisch. Da ist sich die Wissenschaft einig. Was hier hätte passieren müssen, ist etwas anderes: Die Mutter hatte eine Bindungsstörung zu ihrem Kind, das hat der Gutachter vor Gericht festgestellt. So eine Störung können Familienhebammen und erfahrene Fachkräfte erkennen.
Können Sie erklären, woran?
Die Mutter nimmt den Blick zu dem Kind nicht auf, kann es nicht auf den Arm nehmen, erträgt den Körperkontakt nicht. Aber so etwas könne die Mütter lernen. Dafür gibt es Programme, wie etwa das Steep-Programm aus den USA, auch hier in Hamburg haben wir solches Modellprojekt an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Mütter haben begleiteten Kontakt zu ihren Kindern und erhalten jedes Mal ein Feedback, was passiert ist. Wenn das gut läuft, setzt das ungeahnte Kräfte frei und die Mütter haben gute Chancen.
Was ist bei Yagmur falsch gelaufen?
Das Problem dieser Bindungsstörung wurde verkannt. Mit sozialarbeiterischen Mitteln allein kann man eine Bindungsstörung nicht behandeln. Ich darf den Kontakt zwischen Mutter und Kind nicht dem Zufall überlassen, sondern muss ihn begleiten. Man kann nicht drauf vertrauen, dass Mutter und Kind schon irgendwie zurechtkommen.
Die Mutter wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sie gilt als voll schuldfähig.
Das ist unverständlich. Eine bindungsgestörte Mutter kann nicht voll straffähig sein. Das ist eine ernsthafte Erkrankung, bei der ich das Kind als Feind ansehe.
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