Konfliktforscher zu den Wahlen im Iran: „Die Desillusionierung ist groß“
Am Freitag wählt der Iran ein neues Parlament und einen Expertenrat. Doch Legitimation von unten ist dem Regime nicht mehr wichtig, sagt Tareq Sydiq.
taz: Herr Sydiq, zum ersten Mal seit Beginn der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste wird im Iran gewählt. Wird sich nach der Parlamentswahl etwas ändern?
Tareq Sydiq: Das Regime wird seinen Kurs fortsetzen. Denn Stimmen, die kritisch sind gegenüber dem Revolutionsführer Chamenei, wurden ausgegrenzt, vor allem aus dem Lager der Moderaten und der Reformisten. Sie werden zwar weiter im Parlament repräsentiert sein, aber es wird von Konservativen dominiert bleiben. Denn vor allem deren Kandidaten wurden zugelassen.
Worauf achten Sie bei der Wahl?
Ein interessanter Aspekt ist die offizielle Wahlbeteiligung. Die Zahlen können zwar geschönt sein, aber sie geben einen Hinweis, in welche Richtung es geht. Schon bei den Wahlen 2020 ging die Beteiligung sehr stark zurück. Wenn sie diesmal wieder bei rund 40 Prozent liegt, wäre das ein Erfolg für das Regime. Das würde zeigen, dass es durch die Proteste nicht so stark an Unterstützung verloren hat. Eine Beteiligung signifikant unter 40 Prozent würde zeigen, dass da weiter etwas erodiert.
32, forscht und lehrt an der Philipps-Universität Marburg. Seine Schwerpunkte sind autoritäre Staatlichkeit, Partizipation und soziale Bewegungen in der MENA-Region.
Viele im Iran lehnen das System komplett ab. Es wurde auch zum Wahlboykott aufgerufen. Kann man das, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen?
Konsequenzen muss man befürchten. Trotzdem sehen wir Boykottaufrufe, sie haben eine gewisse Tradition.
Von wem kommen sie?
Zum einen aus dem Lager der Reformisten, von Leuten, die sich noch äußern können, gerade auch, weil die eigenen Kandidaten nicht zur Wahl zugelassen wurden. Zum anderen von bekannten Dissidenten und anonymen Stimmen. Aber auch ohne die Aufrufe würde die Wahlbeteiligung gering sein. Die Desillusionierung im Land ist groß genug. Früher haben sich häufig zwei Drittel beteiligt, 2020 waren es dann weniger als die Hälfte.
Lässt sich sagen, dass 45 Jahre nach Gründung der Islamischen Republik die Wahlen im Iran an Bedeutung verlieren und die republikanischen Elemente den theokratischen immer weiter weichen?
Ich formuliere es so, dass das System unter Chamenei seine Legitimation durch Wahlen immer stärker eintauscht gegen eine Stabilität durch Homogenität des inneren Kerns. Ein System, in dem es einen gewissen Wettbewerb gibt, erzeugt Legitimität. Die Kosten dafür sind aber, dass die Eliten auch mal widersprechen. Im Iran gibt es nun Massenproteste. Zudem stellt sich bald vielleicht schon die Frage nach der Nachfolge von Chamenei. Also schließt das Regime die Reihen. Der Preis ist weniger Legitimität in der Bevölkerung.
Woran machen Sie diese Entwicklung fest?
Bereits nach den Protesten 2017/2018 wurde die Aufstandsbekämpfung priorisiert, indem in die Polizei investiert wurde. Statt durch Wahlen ein Ventil zu schaffen, durch das Unzufriedenheit artikuliert werden kann, setzt das Regime auf Repression. Es hat vom Versuch Abschied genommen, Massenlegitimation herzustellen und ist von vornherein auf gesellschaftliche Widerstände eingestellt. Auch 2022 war man gut vorbereitet.
Das Regime rechnet also mit weiteren Protesten?
Das Regime weiß, dass weitere Proteste kommen, also bereitet es die Repression gut vor.
Vor eineinhalb Jahren war die Hoffnung groß, dass das Regime stürzt. Warum hat es standgehalten?
Teil des Problems ist, dass die Protestierenden wegen der Repression nicht wirklich fähig sind, eine langfristige Organisierung durchzuhalten. Das Regime hat über Jahrzehnte alles zerschlagen, woraus sich eine landesweite Organisation hätte herausbilden können. Es ist enorm schwierig, eine Protestbewegung über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten.
Gibt es denn aktuell gar keine Proteste mehr?
Doch, seit der heißen, ungefähr sechswöchigen Phase im September und Oktober 2022 gehen sie auf niedrigem Level weiter. Das ist beeindruckend für dezentral organisierte Proteste. Auch wenn sich der Protest der sozialen Bewegungen im Iran nicht immer in Straßenprotesten artikuliert, lässt sich sagen, dass die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die Umweltbewegung, die feministische Bewegung und die Bewegungen der ethnischen Minderheiten alle weiter existieren.
Revolutionen sind allerdings meistens erst erfolgreich, wenn sich innerhalb des Systems Bruchlinien zeigen.
Ja, das ist klassisch bei Revolutionen. In den meisten Fällen wechseln Leute innerhalb des Systems die Seite, oft die Armeeführung. Das ist im Iran bislang nicht der Fall. Weil man kritische Stimmen innerhalb des Systems immer weiter marginalisiert hat, gibt es nicht mehr so viele Leute im System, die mit ihm brechen könnten.
Sie sprechen nicht von einer Revolution?
Der Revolutionsbegriff war immer eine Absichtserklärung der Protestierenden. Jetzt, eineinhalb Jahre später, sehen wir ja, dass das Regime noch im Sattel sitzt. Auch wenn die Proteste bestimmte revolutionäre Aspekte hatten, sieht es derzeit nicht nach einem Umsturz aus.
Neben dem Parlament wird am Freitag auch der 88-köpfige Expertenrat gewählt. Was haben diese Experten für eine Rolle?
Der Expertenrat hat in der Vergangenheit die Nachfolge des Revolutionsführers bestimmt, also den Übergang von Chomeini zu Chamenei 1989. Das ist auch jetzt mit Blick auf Chameneis Alter wieder seine wichtigste Aufgabe.
Wie alt ist er?
Vierundachtzig. Und der Expertenrat wird auf acht Jahre gewählt. Es ist also wahrscheinlich, dass die Personen, die jetzt in den Rat gewählt werden, den neuen Revolutionsführer bestimmen. Viele wurden dieses Mal gar nicht erst als Kandidat für den Expertenrat zugelassen, nur enge Verbündete von Chamenei. Auch der ehemalige Präsident Hassan Rohani darf nicht antreten.
Wer kommt als Khamenei-Nachfolger in Frage?
Khamenei selbst hat sich bislang für niemanden ausgesprochen. Es gibt Spekulationen, aber man weiß es einfach nicht. Wie schon beim letzten Mal, als der designierte Nachfolger kurz vorher abgesetzt wurde und sich Khamenei als Kompromisskandidat durchsetzte, kann es Überraschungen geben.
Können sie sich vorstellen, dass wie in Saudi-Arabien auch im Iran in den nächsten Jahren ein junger, autoritärer Herrscher kommt und das System von oben herab gesellschaftlich liberalisiert, um doch wieder mehr Massenlegitimation herzustellen statt ausschließlich auf Repression zu setzen?
Nicht in naher Zukunft. Im Iran hat sich das System in vielerlei Hinsicht autokratisiert. Ein junger Herrscher müsste sich die nötige Autorität erst einmal erarbeiten. Ich sehe im Iran kein Machtzentrum, das darauf drängen würde, Reformen durchzuführen, sondern eher solche, die die Autokratisierung gutheißen.
Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober zündeln die iranischen Verbündeten in der Region. Milizen wie die libanesische Hisbollah und die jemenitischen Huthis setzen sich als Unterstützer der Palästinenser in Szene. Profitiert das iranische Regime auch selbst vom Gazakrieg?
Das iranische Regime ist auf der Gewinnerseite. Während die Hamas für das Massaker einen hohen Preis zahlt, kann Iran einen Propagandaerfolg für sich verbuchen, ohne viel zu verlieren. Auch wurde die Annäherung von Israel und Saudi-Arabien ausgebremst, was für das Regime eine gute Nachricht ist. Außenpolitisch profitiert es also. Allerdings ist das Eskalationsrisiko in der Region real und da hat auch der Iran einiges zu verlieren.
Und innenpolitisch?
Innenpolitisch spielt der Gazakrieg im Iran keine zentrale Rolle. Unter der regimekritischen Bevölkerung wird zwar zur Kenntnis genommen, was in Israel und Palästina passiert, aber es ist kein dominantes Thema, das von der Unzufriedenheit mit dem Regime ablenken würde. Der Gazakrieg gibt dem Regime ein paar Punkte für seine Propaganda, aber das darf man nicht überbewerten.
Das permanente Zündeln Irans in der Region ist also kein Ablenkungsmanöver?
Nein, die Ablenkung ist ein Nebeneffekt. Die Revolutionsgarden, die die Eskalation in der Region koordinieren, gehen nicht mit Blick auf die innenpolitische Lage vor. Die gucken auf geostrategische Interessen, sie sind außenpolitisch motiviert.
Dabei sind doch gerade sie dafür da, das Regime, das nach der Revolution von 1979 an die Macht gekommen ist, zu schützen. Ist das nicht der Kern der Aufgabe der Revolutionsgarden, wie der Name schon sagt?
Ja, aber sie sind auch dafür da, die Revolution nach außen zu tragen und so das Regime zu schützen. Die sogenannte Achse des Widerstands dient dazu, das Regime außenpolitisch zu schützen. Verbündete Milizen in der Region werden von den Revolutionsgarden so stark wie möglich gemacht, damit sie im Falle eines Angriffs auf den Iran die ganze Region in Brand setzen können. Es geht da nicht um die Gefahr von innen, sondern in erster Linie um eine außenpolitische Abschreckungslogik.
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