Parlamentswahl im Iran: Wahl, Boykott und Skepsis
Das Land war zugepflastert mit Plakaten, doch weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten ging wählen – möglicherweise sogar deutlich weniger.
Schariati war einer der vielen Menschen, die während der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste im Jahr 2022 demonstrierten und inhaftiert wurden. Von der Freiheit, für die er auf die Straßen ging, ist das Land weit entfernt – auch wenn der Staat nun „Wahlen“ abgehalten hat. „Wir hätten gerne eine Wahl gehabt, an der wir teilnehmen können“, sagt Schariati. „Aber das war keine Wahl. Also nehmen wir auch nicht teil.“
Er steht nicht allein. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Menschen in Iran ähnlich denken und am Freitag nicht zur ersten Wahl nach den landesweiten Protesten gegangen sind. Iranische Nachrichtenseiten berichteten von einer Wahlbeteiligung von nur 41 Prozent, doch selbst daran gibt es Zweifel. Ein großer Teil in der Bevölkerung sieht es als Verrat an, in der Islamischen Republik an Wahlen teilzunehmen. Der Wahlboykott ist eines der wenigen Mittel, die Menschen noch haben, um ihrem Widerstand Ausdruck zu verleihen.
Von verschiedenen Seiten hatte es im Vorfeld Boykottaufrufe gegeben. Ein Zusammenschluss von Studierendenorganisationen rief vor der Wahl dazu auf, sie nicht nur zu boykottieren, sondern das ganze System zu stürzen. „Die Islamische Republik kämpft um ihr eigenes Überleben“, hieß es in ihrem Statement, während die Bevölkerung ihr Ende herbeisehne. Das Regime habe „unmenschliche Bedingungen für Millionen von Menschen geschaffen“, so die Studierenden.
Auch Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi erklärte in einem Statement, ein Wahlboykott sei „nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch eine moralische Pflicht“.
Drohungen per Anruf
Im Vorfeld der Wahl hatte die Staatsführung klargemacht, als wie wichtig sie eine hohe Beteiligung erachtet. Mitte Februar erklärte Revolutionsführer Ali Khamenei die Bedeutung von Wahlen in der Islamischen Republik: „Wahlen sind eine Manifestation des Republikanischen Systems und deshalb sind die arroganten Mächte (Israel und der „Westen“, Anm. d. Red.) und die USA (…) gegen Wahlen und gegen die enthusiastische Teilnahme des Volks an den Wahlurnen.“
Das ganze Land war zugepflastert mit Wahlplakaten, mit denen die Menschen zur Wahl aufgerufen wurden. Berichten zufolge übte das Regime auf Teile der Bevölkerung auch direkten Druck aus. So sollen Lehrer:innen Anrufe bekommen haben mit der Drohung entlassen zu werden, wenn sie am Tag nach der Wahl nicht vorweisen können, gewählt zu haben.
Nicht nur deswegen sind Wahlen in Iran von demokratischen Prinzipien weit entfernt. Augenzeug:innen berichteten, dass an den Wahllokalen bewaffnete Milizen standen, aus Sorge vor Protesten. Für die 290 Sitze im Parlament, die neu besetzt wurden, standen überhaupt nur die loyalsten Kandidaten zur Wahl; im Vorfeld war 12.000 Personen die Kandidatur verwehrt worden.
Neben dem Parlament wurde auch der sogenannte Expertenrat wurde neu gewählt: ein Gremium, das der extremistischen Linie des Staats entspricht und für die Ernennung und Abberufung des Revolutionsführers zuständig ist. Bisher musste es nur einmal tätig werden, als es 1989 den immer noch amtierenden Führer Khamenei ernannte.
Mit seinen bald 85 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der frisch „gewählte“ Expertenrat für die Ernennung des nächsten Revolutionsführers zuständig sein wird. Einen Hinweis, wie ideologisch auch der neue Rat ist, ist die Verwehrung einer erneuten Kandidatur des ehemaligen Präsidenten Hassan Ruhani, der schon 20 Jahre im Expertenrat saß. Selbst ein derart gestandener Mann des Systems schien nicht Hardliner genug zu sein.
Zweifel an offizieller Wahlbeteiligung
Erwartungsgemäß erklärten staatliche Stellen die Wahlen zum Erfolg. Am Sonntag zeichnete sich ein Sieg der Erzkonservativen ab. Laut einer Auswertung der staatlichen Nachrichtenagentur Irna gewannen Anhänger des konservativen Lagers die Mehrheit der Sitze im Parlament. Mit 41 Prozent wäre die Wahlbeteiligung diesmal in etwa so hoch wie bei der letzten Parlamentswahl 2020.
„Sie lügen“, kommentiert Masih Sepehri die angebliche Wahlbeteiligung. Die 34-jährige Ingenieurin berichtet, dass Leute sogar ohne Ausweis wählen durften. „Manche haben mit ihrer Bankkarte gewählt. Das Ganze war lächerlich.“ Am Tag nach der Wahl kursierten viele Videos, die leere Wahllokale zeigten. In Teheran, sagt Sepehri, schätzen oppositionelle Stimmen die Wahlbeteiligung sogar auf nur fünf Prozent.
Dass die 41 Prozent nicht der Wahrheit entsprechen, legen auch Umfragen nahe, die staatliche Stellen selbst vor der Wahl veröffentlicht hatten. Demnach sagten gerade einmal 27,9 Prozent, dass sie definitiv an den Wahlen teilnehmen würden, 36 Prozent erklärten, auf keinen Fall wählen zu gehen.
Schariati und Sepehri glauben, dass sich in der Geschichte der Islamischen Republik noch nie so wenige Menschen an Wahlen beteiligt haben. Das liege auch daran, dass es eine Parlamentswahl war, erklärt Schariati. Ein Großteil der Abgeordneten hatte sich im November 2022 dafür ausgesprochen, viele der im Zuge der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste inhaftierten Menschen hinzurichten.
„Wir geben unsere Stimme niemandem, der uns umbringen will“, so Schariati trocken. Diese Wahlen ändern ohnehin nichts. „Sie haben nie das getan, was wir uns wünschen“, sagt er. „Sie haben uns nie zugehört. Und das wird sich auch nicht ändern.“
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt