Konflikt in der Ostukraine: Von Krieg und Aprikosen
Die Kleinstadt Switlodarsk befindet sich an der Grenze zu den Separatisten-Gebieten. Die Wirtschaft liegt am Boden, viele Kinder sind traumatisiert.
Gemütlich ist es trotzdem im Café „Modna Kawa“. Gemütlichkeit ist in der Stadt, die nur zwei Kilometer von der Front zur „Volksrepublik Luhansk“ entfernt liegt, ein seltenes Gut. Kaum Autos sind auf der Straße. Nur ab und zu mal zerreißt ein dunkles „Bum, bum“ der Artillerie von der Front die Stille. Vor allem nachts, aber auch tagsüber.
Die Wohnungen und Häuser sind alle renovierungsbedürftig. Die BBC hatte Anfang des Jahres in einem großen Beitrag über den zunehmenden Drogen- und Alkoholkonsum in der Stadt berichtet. Viele Kinder fänden, wenn sie nach Hause kämen, betrunkene oder bekiffte Eltern vor, so die BBC.
„Hier kann man nur leben, wenn man drei Jobs gleichzeitig hat“, meint der Taxifahrer Alexander. Durchschnittlich bekomme ein Arbeiter 200 Euro im Monat. Nur im Kohlekraftwerk liege der Lohn zwischen 500 und 700 Euro. Lebensmittel sind teurer als in Kiew. Und wer sich auch einmal 150 Gramm alten holländischen Gouda leisten möchte, muss dafür 7 Euro auf den Tisch legen. Dass die Wohnungen sehr preisgünstig zu erwerben sind – 4.000 Dollar für drei Zimmer –, ist ein schwacher Trost. Wer kann, zieht weg – in eine andere ukrainische Stadt, nach Polen oder Russland.
Ein Hotel aus besseren Zeiten
Das zehnstöckige Hotel „Donbass“ im Zentrum der Stadt hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Die letzten Renovierungsmaßnahmen dürfte es in den 70er Jahren gegeben haben. Damals hatte der Stadtstrand Touristen aus der gesamten Sowjetunion angezogen. Doch heute suchen nur noch Militärs, OSZE-Beobachter*innen und Journalist*innen das Hotel auf. Es ist gespenstisch ruhig, von den Wänden bröckelt der Putz. Die Dame an der Rezeption ist ganz aufgeregt, wenn sie, was selten vorkommt, Gästen Zimmer zuweist.
Auf den Straßen von Switlodarsk ist kein Militär zu sehen. Checkpoints auf der Zufahrtsstraße werden jedoch von schwer bewaffneten Soldaten bewacht. In ukrainischer Sprache, was hier unüblich ist, verlangen sie von einigen Fahrgästen im Bus die Papiere, auch Autofahrer müssen an den Checkpoints Dokumente vorlegen.
„Früher sind sie aus allen Himmelsrichtungen zu unserem Markt gekommen“, sagt eine Verkäuferin. Doch nun gingen die Geschäfte schlecht. Fast nur Rentner*innen begutachten die Angebote. Um 14 Uhr leert sich der Markt.
„Hier sind wir vor drei Jahren beschossen worden. Ganze Marktstände wurden dabei vernichtet. Doch die Regierung hat uns nicht mal eine Kopeke gegeben, um einen Stand wieder aufzubauen“, klagt sie. „Wir sind den Herrschenden hier und auf der anderen Seite der Front egal.“
Vor dem Krieg hatte sie bei den Finanzbehörden der Kreisstadt Debalzewo ihre Steuererklärung abgegeben. Nun ist Debalzewo in der Hand der Separatisten und ihre zuständige Finanzbehörde in Bachmut. Da das Bachmuter Finanzamt von ihrem Geschäft keine Unterlagen besaß, wurde sie in die höchste Steuerklasse eingestuft. „Gerne hätte ich denen in Bachmut die Unterlagen gezeigt. Doch wie? Ich kann doch nicht nach Debalzewo fahren. Zu den Separatisten“, schimpft sie.
Aktivistin Olga Vovk
Eine andere Marktfrau berichtet, dass sie als Alleinstehende Unterstützung beantragt habe. Mit der Begründung „Sie sind doch verheiratet“ habe man ihren Antrag abgelehnt. Die Unterlagen über ihre Scheidung liegen in Debalzewo und sind damit für die ukrainischen Behörden nicht existent. Für diese gilt sie immer noch als verheiratet. Alle Dokumente, die einen Stempel der „Volksrepubliken“ von Luhansk oder Donezk tragen, mit Ausnahme von Geburts- und Sterbeurkunden, erkennen die ukrainischen Behörden nicht an.
In der Geisterstadt
Kontakt zur anderen Seite hat sie jedoch weiter, zu Freundinnen und Verwandten. Politik klammert sie in den Gesprächen mit ihren Verwandten aber aus. „Vor einem Jahr haben die Separatisten den Übergangspunkt Majorsk geschlossen“, klagt sie. Doch mit Politik habe diese Entscheidung nichts zu tun. „Wenn wir gezwungen sind, den Umweg über Russland zu nehmen, um nach Lugansk zu kommen, lässt sich mit uns mehr Geld machen, als wenn wir die 100 Kilometer direkt nach Lugansk fahren würden“, erklärt sie die fehlende Bereitschaft der Separatisten, den Checkpoint Majorsk wieder zu öffnen. Es gehe abwärts mit Switlodarsk, fürchtet sie. „Irgendwann wird Switlodarsk eine Geisterstadt sein“.
Ein Besucher der protestantischen Gemeinde von Switlodarsk bestätigt die informellen Kontakte, die nicht nur zwischen Bewohner*innen beiderseits der Front, sondern auch zwischen den Militärs bestünden. „Wenn du mit jemandem aus dem Nachbardorf gemeinsam auf der Schule warst und nie den Kontakt hast abreißen lassen, telefonierst du auch jetzt mit ihm“, sagt der Gläubige. So komme es oft vor, dass Militärs der einen Seite die andere warnten, indem sie ihnen Zeitpunkt und Ziel des nächsten Beschusses vorab mitteilten.
Alles in allem, sagt der Mann, arbeite die Zeit für die Ukraine. Die Menschen in den „Volksrepubliken“ würden verstehen, dass man in den von Kiew kontrollierten Gebieten besser leben könne. Dadurch würde langfristig den Herren der „Volksrepubliken“ die Loyalität ihrer Untertanen abhandenkommen. Protestanten, Baptisten und Muslime würden dort in den „Volksrepubliken“ verfolgt. Lediglich der orthodoxen Kirche räume man ein Existenzrecht ein.
Wo Kinder nur mit Schwarz malen
Nicht alle BewohnerInnen von Switlodarsk wollen sich mit der Perspektive einer Geisterstadt abfinden. Zu diesen zählen die Aktivistin Olga Vovk (26) und Andrij Poluchin (30). Das Paar ist vor drei Jahren von der Hauptstadt Kiew nach Switlodarsk gezogen, weil es Leben in die Stadt bringen will.
Ein Kicker, eine Tischtennisplatte, Pinsel, Kreide, Farbstifte, Sessel, ein Stuhl, von dem man auf eine Matte springen kann, und Weihnachtsgebäck fallen dem Besucher ins Auge, der das Jugendzentrum „VPN-Zone“ betritt.
Die VPN-Zone ist ein Ort, den Jugendliche aller Altersgruppen jeden Nachmittag aufsuchen können. Hier können sie reden, spielen und malen, auch unter Anleitung der Leiterin Olga Vovk. „Hier in dieser Stadt sind alle Kinder traumatisiert“, sagt Vovk, die aus dem westukrainischen Lwiw stammt. „Sie alle haben schon im Keller gesessen, während draußen die Artillerie donnerte.“
Sie bietet hier den Kindern und Jugendlichen ein niederschwelliges Angebot. Das Projekt wird betrieben von der Stiftung „Die Stimmen der Kinder“. Die Stiftung organisiert seit zwei Jahren in Ortschaften an der Front Maltherapien. In der VPN-Zone ist immer etwas los. Wer mit Olga Vovk reden will, kann das tun; wer sich lieber einen Film ansehen, kickern oder Tischtennis spielen will, kann auch das.
Olga Vovk ist die Koordinatorin der „Arttherapie“ in Switlodarsk. Dabei lassen die Betreuer*innen Kinder Bilder malen, die dann gemeinsam besprochen werden. „Wenn wir ein Kind malen lassen, geben wir nie ein Thema vor“, sagt Vovk. „Schon gar nicht bitten wir darum, traumatische Erinnerungen zu thematisieren. Das Kind, oder besser gesagt, das Unterbewusstsein des Kindes, entscheidet immer selbst, was es malt.“
In den meisten Fällen nähmen die Kinder zuerst den Stift mit der schwarzen Farbe in die Hand und zeichneten nur in Schwarz. Mit der Zeit werden die Zeichnungen der Kinder farbig und leuchtend, irgendwann griffen sie gar nicht mehr nach dem schwarzen Stift. „Dies zeigt, dass sich ein schwermütiger Zustand mit Kreativität überwinden lässt“, sagt Vovk.
Angst vor dem Kohle-Aus
Dann erzählt sie noch die Geschichte eines ihrer Schützlinge. Die 14-jährige Olga habe eines Tages einen verdorrten Aprikosenbaum gezeichnet. Zur Erklärung habe das Mädchen gesagt: „Wir hatten einen schönen Aprikosenbaum in unserem Hof. Wir sind immer um ihn herumgelaufen und haben uns Früchte geholt, so viele, wie da waren.“
Doch eines Tages, so die Teenagerin, habe sich ein Geschoss direkt unter den Aprikosenbaum gebohrt. Seitdem trage der Baum keine Früchte mehr. Nun kämen ihr immer, wenn sie Aprikosen sehe, der Aprikosenbaum auf ihrem Hof und der Krieg in den Sinn.
Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, auch die HelferInnen brauchen Hilfe. Jede Woche mache eine Psychologin mit den Kunsttherapeut*innen Supervision. „Wenn wir sehen, dass sich ein Kind merkwürdig verhält, Anzeichen von Stress an den Tag legt, ziehen wir die Psychologin auch schon mal außer der Reihe zu Rate“, erzählt Olga Vovk.
„Ein weiteres Problem ist“, erklärt ihr Mann Andrij Poluchin, „dass niemand in eine Frontstadt investieren will. Wir brauchen hier aber die Wirtschaft.“ Er ist der Koordinator der Vereinigung „An der Kontaktlinie“ im Gebiet Donezk. In dieser Organisation arbeiten Aktivist*innen, Beamt*innen und Kleinunternehmer*innen von Orten mit, die an der 427 Kilometer langen Front liegen. Ihnen allen sind eine hohe Arbeitslosigkeit sowie eine schlechte und zerstörte Infrastruktur gemeinsam. Daran versucht die Vereinigung etwas zu ändern.
Derzeit versucht Andrij Poluchin, ein Werk der Metallindustrie in die Stadt zu holen. Noch sei das Kohlekraftwerk von Switlodarsk ein wichtiger und guter Arbeitgeber für 2.500 Menschen. Nirgends in der Stadt werde so gut bezahlt wie dort. Doch auch die Ukraine wolle aus der Kohleindustrie aussteigen. Für Switlodarsk bedeute das, dass eines Tages auch der wichtigste Arbeitgeber wegbrechen werde.
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