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Konferenz zu AntisemitismusJudenhass über alle politischen Lager hinweg

Eine Tagung befördert erschreckende Details alltäglichen Antisemitismus an deutschen Universitäten zutage. Jüdische Studierende verlangen mehr Schutz.

Der Präsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Ron Dekel Foto: Nicholas Potter

Aus Berlin

Klaus Hillenbrand

Die Worte gleichen sich. „Eine Zäsur für jüdisches Leben in Deutschland und in ganz Europa“ sei der 7. Oktober 2023 gewesen, sagt Ron Dekel, 23-jähriger Präsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. „Der 7. Oktober hat alles für uns verändert“, erklärt auch Matthias Heyl von der Gedenkstätte Ravensbrück.

Die Wahrheit „verblasst“ auf dem Weg zu einer „Desinformationsgesellschaft“, analysiert der Präsident des Bundesverfassungsschutzes Sinan Selen. Das Massaker der Hamas in Israel habe eine antisemitische Welle ausgelöst, deren Ende noch nicht absehbar sei, so die einhellige Meinung auf einer wissenschaftlichen Tagung des Tikvah-Instituts in Berlin mit dem beklemmenden Titel „Antisemitismus und die ‚Krise‘ der Wahrheit“ am vergangenen Wochenende.

Die von den neuen Informationstechnologien befeuerten Verschwörungstheorien griffen um sich, sagt Selen. Antisemitismus als prominentester Vertreter irrationaler Wahnvorstellungen nehme dabei einen besonderen Platz ein. Die antijüdische Vorstellungswelt sei ein besonderes Einfallstor für Extremisten.

Jüdische Studierende sind vor allem mit vermeintlich linken Protagonisten konfrontiert, die glauben, ihre Vorstellungen seien Teil eines antikolonialen Kampfs

Wobei die Ideologie der Antisemiten höchst unterschiedlich ausfallen kann. Jüdische Studierende wie Dekel sind vor allem mit vermeintlich linken Protagonisten konfrontiert, die glauben, ihre Vorstellungen seien Teil eines antikolonialen Kampfs. Matthias Heyl hat es mit Rechtsradikalen zu tun, die muslimische Besucher im öffentlichen Raum außerhalb der Gedenkstätte Ravensbrück drangsalieren, aber auch mit rechts denkenden jungen Menschen aus deutschen Elternhäusern, die zu provozieren versuchten.

Dies, so berichtete Heyl, sei schon so weit gegangen, dass eine jüdische Schülerin die Gedenkstätte aus Furcht um ihre Sicherheit nicht zusammen mit ihren nichtjüdischen Klassenkameraden besuchen wollte. Gipfel pädagogischer Maßregeln in Deutschland 80 Jahre nach dem deutschen Judenmord: Die Schule verlangte, dass das jüdische Mädchen wegen ihres Fehlens beim Gedenkstättenbesuch einen Aufsatz schreiben sollte – über den Holocaust.

Hotspot Uni Campus

Geheimdienstchef Selen verwies auf den Judenhass unter militanten Islamisten, deren Zahl zwar geringer ausfalle, deren Radikalisierung aber besonders groß sei. Diese Gruppe verneine nicht nur das Existenzrecht Israels, sondern sehe Terrorangriffe auf israelische oder jüdische Einrichtungen in Deutschland als „legitimen Befreiungsakt“.

Dave Rich arbeitet für die britische NGO Community Security Trust, die dabei hilft, Jüdinnen und Juden vor Angriffen zu schützen. Er meint, eine Interessenidentität zwischen Linken und Islamisten zu erkennen. Beide Gruppen bekämpften die liberale Demokratie. Das Gedenken an den Holocaust sei aber integraler Bestandteil der Gesellschaftsform. „Wenn du die liberale Demokratie zerstören willst, musst du auch das Gedenken an den Holocaust zerstören“, sagte er. Ein anderes, von rechts verwandtes Argument laute, die Erinnerung an den Holocaust befördere die Unterstützung von Migration in großem Ausmaß.

Die Jüdische Studierendenunion sieht sich vor allem mit Israel-bezogenem Judenhass konfrontiert, wobei es allerdings keineswegs bei einer Identifikation mit den Terrortaten der Hamas bleibt, sondern klassisch rechtsradikale Parolen übernommen würden. Seminarräume seien mit Parolen wie „Juden ins Gas“ beschmiert worden. Dekel berichtet von einem Vorfall, bei dem eine Studentin „Juden raus aus dem AStA!“ gefordert habe.

Wo genau beginnt der israelbezogene Antisemitismus?

Parolen wie „Intifada bis zum Sieg“ erklärten die Vernichtung des Staates Israel zum Ziel. Es kursieren Behauptungen, das Hamas-Massaker vom 7. Oktober werde von „Zionisten“ „aufgebauscht“. Jüdische Studierende erlebten eine ständige Anspannung und Bedrohung. Das Ergebnis: „Jüdische Studierende trauen sich teilweise nicht mehr an die Uni“, so Dekel.

Die Universitätsleitungen hätten bei der Bekämpfung antisemitischer Taten versagt, moniert der Student der Politikwissenschaft. Der jüdische Studierendenverband hat Ende November einen Forderungskatalog aufgestellt. Verlangt wird darin, dass die Unis vorab Handlungspläne für den Fall beschließen, dass es zu antisemitischen Vorfällen kommt. Dazu zähle auch ein Hausverbot und die Möglichkeit einer Exmatrikulation. Zum Schutz der jüdischen Studierenden wird die verbindliche Einsetzung von Antisemitismusbeauftragten verlangt, bei deren Auswahl die Betroffenen ein Mitspracherecht haben sollten.

Wobei sich die Frage stellt, wo der israelbezogene Antisemitismus denn beginnt. Ist die Behauptung, der jüdische Staat begehe einen Genozid an den Palästinensern bereits antisemitisch gefärbt, weil man damit die Existenz Israels delegitimiert? Die Referenten der Tikvah-Tagung waren sich darin einig, dies zu bejahen – aber das spricht eher für eine gewisse Einseitigkeit in der Auswahl der Vortragenden als für einen Konsens in dieser Frage.

Verschwindet jüdisches Leben aus der Öffentlichkeit in Unis, Schulen und im Betrieb? Einiges deutet darauf hin. Ron Dekel berichtet davon, dass sein Verband in diesen Tagen 60 Universitäten mit der Bitte angeschrieben habe, im Dezember neben einem Weihnachtsbaum auch einen Chanukka-Leuchter sichtbar aufzustellen. Ganze zwei Unis stimmten zu.

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