Komponist Alvin Lucier über Avantgarde: „Ich liebe die Gipsy Kings“
Alvin Lucier nutzt in seiner Musik den Klang von Räumen. Ein Gespräch über Echos, Pop und One-Hit-Wonder der Neuen Musik.
taz: Herr Lucier, wenn Sie in einem Raum wie diesem Restaurant sitzen, nehmen Sie ihn dann unter musikalischen Gesichtspunkten wahr?
Alvin Lucier: Eigentlich nicht. Da muss ich Sie enttäuschen. Ich werde auch oft gefragt, ob ich mich für Architektur interessiere. Dann sage ich stets: Nein, eher nicht. Ich höre den Raum, wenn ich ihn betrete. Doch das ist nicht mein Lebensinhalt.
Eines der Stücke, das ständig mit Ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, ist Ihr frühes Werk „I am sitting in a room“. Darin wird die Tonbandaufnahme eines Texts im Konzertsaal abgespielt und gleichzeitig neu aufgenommen. Dieser Vorgang wird so oft wiederholt, bis die Resonanzen im Raum so dominant sind, dass man die Sprache nicht mehr erkennt. Fühlen Sie sich manchmal wie ein One-Hit-Wonder der Neuen Musik?
Manchmal. Das Stück habe ich tatsächlich sehr oft gespielt, auch in Berlin, unter anderem im Podewil. Vor ein paar Tagen war ich in Moskau, da interessierten sie sich vor allem für mein erstes Stück, das Alphawellenstück „Music for solo performer“ für Gehirnströme. Zusammen mit „I am sitting in a room“ und „Vespers“, in dem ich Geräte zur Echoortung benutze, waren diese frühen Stücke ein Durchbruch für mich. Später haben mich Musiker gebeten: Schreib uns ein Stück. Und ich dachte: Das ist eine gute Idee. Daher habe ich ebenfalls Instrumentalstücke gemacht.
Als Sie anfingen zu komponieren, schrieb man Musik vornehmlich für traditionelle Instrumente. Mit der Technik von heute benötigt man keine musikalische Ausbildung mehr, um Musiker zu sein. Was halten Sie davon?
Ich bin froh, dass ich als Musiker und Komponist klassisch ausgebildet wurde. Ich nehme das sehr ernst, wenn ich Noten schreibe. Für mich war diese Ausbildung sehr hilfreich. Ich habe gern mehrstimmige Fugen im Stil des 16. Jahrhunderts komponiert. Das ist wie ein Puzzle lösen. So etwas ist sehr wichtig.
geb. 1931, ist einer der führenden US-amerikanischen Avantgarde-Komponisten. Berühmt wurde er mit Stücken wie "I Am Sitting in a Room" (1970) oder "Vespers" (1968), in denen die Resonanzen von Räumen aktiv die Musik mitgestalten.
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 85. Geburtstag von Alvin Lucier 2016 an der Zürcher Hochschule der Künste gründete sich das Ever Present Orchestra. Das erste Konzert ist am 10. Oktober 2017 um 20 Uhr in der Sankt-Elisabeth-Kirche in Anwesenheit des Komponisten. Parallel dazu erscheint das Buch mit LP-Box „Alvin Lucier – Illuminated by the Moon“.
Steht Ihre Arbeit mit den Resonanzen von Räumen in der Vokaltradition des 16. Jahrhunderts, als man Chorsänger im Raum verteilt aufgestellt hat?
Ein bisschen. Viele meiner Entscheidungen beruhen aber auf Erfahrung. Als Schüler spielte ich in einer Blaskapelle. Wir begannen in einem Tunnel zu spielen und gingen dann hinaus aufs Football-Feld. Ich selbst war Schlagzeuger. Das Echo war herrlich, wie es sich räumlich veränderte. Ich war auch Chorleiter. Beim Proben eines Bachstücks etwa suchte ich dann stets nach dem richtigen Tempo. Wenn man in einer Kirche auftritt, muss man der Akustik wegen etwas langsamer werden. Das waren sehr konkrete Erfahrungen, nichts Theoretisches.
Waren Sie damals von neuen Technologien inspiriert?
Nein. Ich hatte einfach Ideen und musste dann herausfinden, wie ich sie verwirklichen konnte. Das Stück „Music on a long thin wire“ ist von einem Monochord inspiriert, einem Instrument mit nur einer Saite. Ich dachte: Wie, wenn die so richtig lang wäre? Also machte ich sie richtig lang, manchmal 30 Meter. Dann setzte ich einen Magnet daran, damit der Draht zu vibrieren anfing. In Zürich, wo ich letztes Jahr war, fragte man mich: „Wie sieht Ihr Labor aus?“ Aber ich habe gar kein Labor!
Bei Ihrem Konzert heute Abend gibt es neuere Werke von Ihnen zu hören, für traditionelle Instrumente geschrieben. Was hat Ihr früherer Ansatz mit Ihrer mikrotonalen Stimmung von heute zu tun?
Nun, das ist ein anderes akustisches Phänomen. Die Musiker spielen einfach lang gehaltene Töne. Ich habe früher mit dem Cellisten Charles Curtis gearbeitet. Er meinte damals zu mir: „Wenn du zu viele Noten schreibst, muss ich zu sehr aufpassen. Ich will hören, was ich mache! Halt die Sachen daher einfach.“ Bei komplizierten Stücken wie denen von Brian Ferneyhough haben die Musiker so viel damit zu tun, ihre Noten richtig zu spielen, dass sie die kaum noch hören.
Zu den Musikern, die lange Töne spielen, gehören auch die Drone-Gitarristen Stephen O ’Malley und Oren Ambarchi, zwei prominente Mitspieler des Ever Present Orchestra, das heute Abend auftritt. Sehen Sie die als Anhänger?
Ich weiß es nicht, sie spielen einfach gern das Stück, das ich für sie geschrieben habe. Ich freue mich, dass Musiker aus anderen Richtungen so etwas gern spielen. Ich habe“I am sitting in a room“ mal am MIT gespielt. Hinterher kam ein Junge zu mir und sagte: „Das war cool!“ Zwei Wochen später schickte er mir seine Version des Stücks, die hatte er am Computer gemacht. Ich dachte mir: Wenn ich 86 Jahre alt bin und ein Zehnjähriger meine Musik mag, ist das doch mal ein Erfolg.
Hören Sie eigentlich die Neue Musik von heute?
Immer weniger. Schrecklich. Stücke mit zu vielen Noten. Warum machen die das? Aber ich höre viel Pop.
Was denn?
Ich mache Übungen am Trainingsgerät, und dafür brauchst du einen Beat. Das gibt dir Energie. Die Gipsy Kings zum Beispiel. Die höre ich. Ich bin auch zu ihrem Konzert in New York gegangen. Ich liebe sie.
Gibt es bestimmte Musik, die Sie nicht mögen?
Ich höre bestimmte Musik zu bestimmten Zeiten. Ich mag Country, Willie Nelson. Sehr guter Sänger. Waylon Jennings. Auch ein guter Sänger. Wenn ich im Westen bin, höre ich das.
Der Komponist Helmut Lachenmann hat öffentlich sein Missfallen an Pop bekundet. Sie sehen das wohl anders.
In Indien zum Beispiel gibt es verschiedene Musik je nach Tageszeit, einen Morgen-Raga oder einen Abend-Raga. Oder zur Hochzeit. Dazu würde man ja auch nicht Helmut Lachenmann spielen. Ich finde, er hätte das nicht sagen sollen. Das ergibt doch keinen Sinn. Jemand wie O’Malley ist ein toller Musiker, egal, was er sonst spielt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen