Kommunalwahlen in der Türkei: Alles soll sehr schön werden
In Istanbul will Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wiedergewählt werden. Bei den Kommunalwahlen geht es um mehr als die Vorherrschaft am Bosporus.
S ein Wahlkampfsong lautet „Her şey çok güzel olacak“ – alles wird sehr schön werden. Kaum sind die letzten Töne des Songs verklungen, kniet Ekrem İmamoğlu bereits am Rand der Bühne. Er schüttelt Hände, stemmt Kleinkinder hoch, die ihm gereicht werden und macht Selfies mit aufgeregten Anhängerinnen, die ihm ihr Handy aufdrängen.
Ekrem İmamoğlu, Führungsmitglied der größten Oppositionspartei CHP, macht Wahlkampf im Istanbuler Außenbezirk Ümraniye, ein Bezirk, der bei den letzten Kommunalwahlen deutlich an die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ging. İmamoğlu ist seit fünf Jahren Oberbürgermeister Istanbuls, einer Stadt, die mit knapp 16 Millionen BürgerInnen mehr Einwohner hat als die meisten EU-Länder.
Jetzt wirbt İmamoğlu für seine Wiederwahl – aber der Kampf um das Amt des Bürgermeisters ist mehr als eine Kommunalwahl. İmamoğlu tritt gegen den von Erdoğan ausgesuchten AKP-Kandidaten Murat Kurum an, der frühere Minister für Umwelt und Stadtplanung. Vor allem geht es aber darum, ob İmamoğlu sich als Herausforderer von Präsident Erdoğan etablieren kann und als Oppositionsführer bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen ihn antreten wird. Und damit auch darum, in welche Richtung die Türkei gehen könnte.
Als İmamoğlu zu seiner Wahlkundgebung in Ümraniye eintrifft, ist die Stimmung noch verhalten. Es ist ein nasskalter Märztag, Ümraniye kein Heimspiel für ihn. Die Menschen hier wollen erst überzeugt werden. Immerhin, es sind mehrere Tausend gekommen, die sich vor der Bühne am Ende einer Fußgängerzone zusammendrängen, neugierig, was İmamoğlu ihnen zu sagen hat.
Der spricht einige in der Menge direkt an und wendet sich an die Zuschauer, die aus den Fenstern der Häuser am Straßenrand hängen. Redet mit ihnen über ihre Situation in Ümraniye, beklagt, wie teuer die Lebensmittel für das Fastenbrechen im laufenden Ramadan sind, hat aber auch einen Tipp: Seine Volksküchen, von denen es nun auch eine in Ümraniye gibt. Die Volksküchen, die von der Stadt subventioniert werden, sind einer der Leuchttürme von İmamoğlus Sozialpolitik.
Binnen weniger Minuten schafft İmamoğlu es bei seiner Rede so, die Leute abzuholen – auch die, die noch nicht zu seinen Fans gehören. Wenn er sich der Aufmerksamkeit sicher sein kann, zählt er die Leistungen und Erfolge seiner letzten fünf Jahre als Bürgermeister auf. Wie man das macht, hat er von Erdoğan gelernt, der schon seit Jahren auf den Wahlkampfbühnen landauf und landab seine Zuhörer mit den Kilometern neugebauter Straßen und der Anzahl neugebauter Wohnungen so zudröhnt, dass sie am Ende den Präsidenten tatsächlich für den Kümmerer und Erneuerer des Landes halten, für den er sich ausgibt.
Er will vereinen, nicht spalten wie Erdoğan
Auch İmamoğlu listet seine Erfolge und Wohltaten fein auf – und wie bei seinem Widersacher verfängt das bei vielen Zuhörern, weil zumindest ein Teil davon stimmt und sich in der Lebensrealität der Leute wiederfindet. Er habe „nur 87 Prozent“ seiner Versprechungen gehalten, soll sein AKP-Gegenkandidat Murat Kurum bei einem Wahlkampfauftritt gesagt haben, ohne zu merken, dass das doch eine wirklich bemerkenswerte Erfolgsquote für seinen politischen Gegner wäre.
Knapp zwei Wochen vor den Kommunalwahlen am 31. März hämmert İmamoğlu den BürgerInnen von Istanbul nun jeden Tag bei bis zu drei Kundgebungen in verschiedenen Stadtteilen der Metropole seine bisherigen Erfolge ein und beschwört, was in den nächsten Jahren noch alles folgen soll. „Volle Kraft voraus“ ist das Motto seiner Kampagne, was die anderen machen, interessiert ihn scheinbar nicht.
Er will vereinen, nicht spalten wie Erdoğan, da passt kleinliche Kritik am politischen Gegner nicht. Er macht nur eine Ausnahme: Er kritisiert scharf das von Erdoğan trotz aller Widerstände immer weiter vorangetriebene Projekt eines Kanals vom Schwarzen Meer ins Marmarameer, einen künstlichen zweiten Bosporus sozusagen.
Alle seriösen Wissenschaftler sind sich einig, dass ein solcher Kanal ein ökologisches Desaster für das Marmarameer und damit für Istanbul werden würde. İmamoğlu will dieses Projekt deshalb unbedingt verhindern und bittet die BürgerInnen um ihre Unterstützung. Ansonsten versucht er aber vor allem gute Laune zu erzeugen, bringt die Leute zum Lachen und erntet am Ende tatsächlich viele strahlende Gesichter, als seine Hymne von der Zukunft, in der „alles sehr schön wird“, angestimmt wird.
Die Opposition tritt völlig zersplittert an
Es gibt in der Türkei wenige so begnadete Wahlkämpfer wie İmamoğlu, was zu einem großen Teil zu seinem Überraschungserfolg vor fünf Jahren beigetragen hat, als er Erdoğan nach 25 Jahren islamischer Regentschaft die größte Metropole des Landes abnahm und dem Dauersieger der türkischen Politik damit seine erste große Niederlage zufügte.
Dass Erdoğan, wie er kürzlich ankündigte, für die jetzigen Kommunalwahlen angeblich seinen „letzten Wahlkampf“ führt, also bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht mehr antreten würde, glaubt in der Opposition niemand. Das sei lediglich ein Versuch, möglichst viele Anhänger an die Urne zu bringen, um eine weitere Niederlage in Istanbul zu verhindern, kommentierte ein CHP-Sprecher.
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Doch obwohl İmamoğlu jetzt als Amtsinhaber mit wesentlich mehr Ressourcen als vor fünf Jahren Wahlkampf machen kann, ist ein Sieg für ihn keineswegs ein Selbstläufer. Im Mai vergangenen Jahres hat Erdoğan es trotz einer vereinigten Opposition geschafft, zum Präsidenten wiedergewählt zu werden. An dieser Niederlage ist die Allianz der Opposition zerbrochen. Und jetzt, bei den wichtigsten Kommunalwahlen seit Jahrzehnten, wo es darum geht, den letzten Bestand politischen Gestaltungsraum, der nicht von Erdoğan beherrscht wird, zu retten, tritt sie völlig zersplittert an.
Jede Partei der früheren Oppositionsallianz will mit eigenen Kandidaten antreten, jeder Prozentpunkt, den nun eine Kandidatin der kurdischen DEM oder der nationalkonservativen IYI-Partei gewinnt, wird İmamoğlu im Kampf gegen Erdoğans Istanbuler Stellvertreter Murat Kurum am Ende fehlen.
İmamoğlu gehörte nie zu den Hardcore-Kemalisten
„Das ist politischer Wahnsinn“, sagt Murat Polat, einer der Anhänger der kurdischen Partei, die mit dieser Entscheidung nicht einverstanden sind. Sein Name ist geändert, weil sich in der Türkei aus Angst vor Repressionen kaum noch jemand mit Klarnamen äußern will. „Meral Danış Beştaş, die Frau, die nun für die DEM – besser bekannt unter ihrem früheren Namen HDP – antreten wird, kann nach den bisherigen Umfragen ungefähr 4 bis 5 Prozent holen“, sagt Polat. „Was haben wir von diesen vier Prozent, wenn Erdoğan sich dafür Istanbul zurückholt?“
Die Kandidatin Meral Danış Beştaş erwidert auf diese Frage immer, die Kurden hätten İmamoğlu vor fünf Jahren unterstützt, doch nach seiner Wahl hätte er für die Kurden nicht mehr viel getan. Das sehen selbst viele Kurden anders. İmamoğlu war einer der wenigen prominenten Oppositionspolitiker außerhalb der kurdischen Bewegung, die sich offen mit verhafteten kurdischen Politikern solidarisierten. „İmamoğlu verdient unsere Unterstützung“, ist Murat Polat überzeugt.
Gerüchte, dass Erdoğan den Kurden für die Nominierung eines eigenen Kandidaten in Istanbul mehr politische Bewegungsfreiheit in ihren Hochburgen im Südosten des Landes angeboten hat, weist Polat jedoch als üble Nachrede zurück. Das sei es nicht. Vielmehr habe die kurdische Basis nach der Enttäuschung über die Wahlallianz im letzten Jahr jetzt darauf gedrängt, überall eigene Kandidaten aufzustellen. „Vielleicht kommt es kurz vor den Wahlen aber doch noch zu einer Einigung“, hofft Polat. Gespräche gebe es noch.
Das hat auch Ayşe Arda gehört, die bei einer armenischen Stiftung arbeitet und eine weitere Islamisierung der Stadt befürchtet. „Ich mag İmamoğlu nicht besonders“, sagt sie, „er ist auch ein Populist, aber ich hoffe dennoch sehr, dass er gewinnt. Wir brauchen die Regierung İmamoğlus in Istanbul als Gegengewicht zu Erdoğans Dauerregime an der Spitze des Staates.
Der heute 54-jährige İmamoğlu kommt, wie die Familie Erdoğans auch, vom Schwarzen Meer, einer eher konservativen Region. Er hat Betriebswirtschaft studiert und zunächst in der Baufirma seines Vaters gearbeitet, bevor er dann in dem westlichen Randbezirk Istanbuls, in Belikdüzü, als Vertreter der CHP 2014 zum Bezirksbürgermeister gewählt wurde.
Davor war er ein politisch völlig unbeschriebenes Blatt. 2019 wurde er dann von der damaligen Istanbuler CHP-Vorsitzenden Canan Kaftancıoğlu als Kandidat für die Oberbürgermeisterwahl ins Gespräch gebracht. Kaftancıoğlu, die zum linken Flügel der CHP gehört, hat den wirtschaftsliberalen Bezirksbürgermeister vorgeschlagen, weil sie, wie sie später erzählte, in ihm einen Kandidaten gesehen hat, der WählerInnen weit über die Kernklientel der CHP hinaus gewinnen kann.
İmamoğlu gehörte nie zu den Hardcore-Kemalisten, die das Erbe des Gründervaters Atatürk notfalls auch mit dem Militär verteidigen wollten. Er ist, gleichwohl er die säkulare Seite der türkischen Gesellschaft vertritt, ein praktizierender Muslim, der gläubige WählerInnen nicht abschreckt.
Ein Bürgermeister für Kultur und Frauen
Dennoch repräsentiert er die moderne Türkei, im Gegensatz zu Erdoğans rückwärtsgewandter Verklärung des Osmanischen Reiches. Das sieht man nicht zuletzt an seiner Kulturpolitik. Wenn man mit dem Schiff vom Stadtzentrum aus den Bosporus zum Schwarzen Meer hinauffährt, fallen auf halber Strecke am rechten Ufer immer acht riesige Dieselspeichertanks auf, die dort seit Jahrzehnten die Landschaft verschandeln. Noch bis vor einigen Jahren wurde in ihnen Schiffsdiesel gebunkert, doch dann standen sie leer.
In den letzten Monaten hat sich mit den gigantischen Tanks eine Verwandlung vollzogen. Ihre Dächer wurden in leuchtenden Farben angemalt, über die ehemaligen Instandhaltungsstege kann man nun als Besucher auf die Plattformen steigen, in einige Tanks wurden Türen und Fenster hineingeschnitten, andere blieben dunkel, aber bekamen Eingangstüren, zu denen nun befestigte Stege führen. Geht man in eines dieser Silos hinein, steht man in einer digitalen Kunstwelt, wo eine Installation nach der anderen beeindruckt. Aus den ehemaligen Dieseltanks ist ein Ort für digitale Kunst geworden.
In den Nebengebäuden der Anlage sind ein städtisches Restaurant und eine für alle BürgerInnen zugängliche gut ausgestattete Kunstbibliothek untergebracht worden. Der Platz zwischen den Silos wird für Konzerte im Freien vorbereitet. Die „Silos von Çubuklu“ sind ein typisches İmamoğlu-Projekt. Statt das Geld der Stadt in religiöse Orden und voluminöse Fahrzeugparks zu stecken, wie die islamischen Vorgängerregierungen es getan haben, lässt İmamoğlu leerstehende historische Gebäude in öffentliche Bibliotheken und Kunstprojekte umwandeln. Er will eine moderne Stadt, in der junge Leute sich wohlfühlen können.
Neben der Kultur will er vor allem Frauen unterstützen. Er hat Kindergärten bauen lassen, damit Frauen leichter berufstätig sein können, für Mütter mit kleinen Kindern hat er eine Freifahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr eingeführt. Kinder bedürftiger Familien bekommen in der Schule Milch und etwas zu essen.
Sein Gegenkandidat von der AKP verspricht dagegen, mehr Wohnungen zu bauen, mehr Straßen und Schienen, um den permanenten Verkehrsinfarkt Istanbuls aufzulösen. Das kostet viel Geld – und dieses Geld kommt im türkischen Zentralstaat vor allem von der Regierung in Ankara. Jeder Stadt stehen nach ihrem Bevölkerungsschlüssel entsprechende Zahlungen zu, aber ob und wann das Geld kommt, hängt von der Regierung ab.
Erdoğan hat nach der AKP-Niederlage in Istanbul vor fünf Jahren erst einmal die Gelder für die Stadt eingefroren und versucht, İmamoğlu so zu Fall zu bringen. Der Weiterbau verschiedener U-Bahn-Projekte musste gestoppt werden, auch anderswo kam es zu Engpässen. Am Ende musste die AKP aber befürchten, dass dieser Versuch der finanziellen Strangulierung letztlich auf sie selbst zurückfällt. Außerdem ist Istanbul eine reiche Stadt. In der größten Metropole des Landes wird rund ein Drittel des Bruttosozialproduktes der gesamten Türkei erwirtschaftet, da finden sich immer Wege, an Geld zu kommen.
Die meisten Bezirke sind einer Partei zugeordnet
Dennoch versucht Erdoğan auch in diesem Kommunalwahlkampf, mit finanzieller Erpressung zu drohen. Im Erdbebengebiet in Hatay, bislang eine CHP-Hochburg, hat er offen gesagt, wenn die BürgerInnen eine andere Partei wählen als die, die in Ankara regiert, wird es schwierig mit dem Wiederaufbau. Auch bei seiner Wahlkampftour durch die überwiegend kurdisch bewohnten Städte im Südosten des Landes machte er immer wieder klar, dass Investitionen vor allem dann fließen, wenn seine AKP auch vor Ort regiert. Gerade in ärmeren Gemeinden ist das ein starkes Motiv, letztlich die Kandidaten der AKP zu wählen.
Doch İmamoğlu hat in den letzten fünf Jahren gezeigt, dass man auch gegen die Zentralregierung erfolgreich Politik machen kann. In den Umfragen liegt er knapp vor Kurum, mal zwei Prozent, mal sogar sieben. In den meisten Bezirken in Istanbul sind die Parteipräferenzen klar vergeben. Es gibt religiöse Bezirke, in denen die AKP bis zu 70 Prozent holt und säkulare Bezirke, in denen es genau andersherum ist. Nur wenige Bezirke sind nicht klar zugeordnet, einer davon ist Üsküdar auf der asiatischen Seite der Stadt.
Obwohl Üsküdar in seinem historischen Zentrum sehr konservativ ist, sind die Wohngebiete darum herum oft der CHP zugeneigt. Die AKP hat hier bei den letzten Kommunalwahlen nur sehr knapp gewonnen, sie will Üsküdar unbedingt halten. Für sie ist der Stadtteil ein Prestigeprojekt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat hier seinen privaten Wohnsitz, auch etliche andere AKP-Bosse haben sich auf dem Çamlıca-Hügel in Üsküdar niedergelassen.
Oben auf dem Hügel, der die asiatische Seite Istanbuls überragt, hat Erdoğan als persönliches Vermächtnis seine Moschee, die größte der Stadt, bauen lassen. Weil es dort aber praktisch keine Gemeinde gibt, werden nun rundherum Stadtvillen für seine Anhänger gebaut. Die AKP investiert viel Geld in Üsküdar.
Als Kontrastprogramm zu Erdoğan und seinen Männern hat die CHP in Üsküdar für das Bezirksbürgermeisteramt mit Sinem Dedetaş eine Frau nominiert, die bislang das Verkehrsressort für Istanbul geleitet hat. Überhaupt setzt İmamoğlu für seine Wiederwahl stark auf Frauen. Seine Ehefrau, Dilek İmamoğlu, ist Wissenschaftlerin, trägt ihr blondes Haar natürlich offen und unterstützt nach Kräften seinen Wahlkampf.
Am internationalen Frauentag, dem 8. März, macht sie mit ihrem Mann Wahlkampf in Üsküdar. Gemeinsam mit Dilek İmamoğlu steht Dedetaş am Abend des 8. März auf dem Podium des Hauptplatzes in Üsküdar. Es regnet Bindfäden und vom Bosporus weht ein strammer Wind. Trotz des Wetters sind viele Frauen zu der Kundgebung gekommen. İmamoğlu selbst redet natürlich auch, schiebt die beiden Frauen aber immer wieder nach vorne.
Im Publikum sind viele begeistert. „Sinem Dedetaş ist eine tolle Kandidatin“, sagt eine der Kundgebungsteilnehmerinnen. „Ich hoffe, sie schafft es.“ Auf die Frage nach den Chancen für İmamoğlu sagt sie: „Es wird schwer. Aber ich glaube von ganzem Herzen, dass er Istanbul halten kann.“
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