Kommunalwahl in Großbritannien: Zerreißprobe für Labour
In London-Haringey verfolgte die Labour-Regierung eine öffentlich-private Partnerschaft zur Stadterneuerung. Dann putschte die Corbyn-Basis.
Als die taz sich vorstellt, blafft Carlin vorwurfsvoll: „Wer hat Sie hierher eingeladen?,“ und verlangt das Verlassen des Büros. Der Wahlkampfhelfer neben ihr schaut entsetzt, doch er kann nichts tun. All das in jenem Viertel, in welchem Jeremy Corbyn einst seine politische Karriere begann, der Labour-Chef, der vorgibt, für eine andere, anständigere Politik zu stehen.
Crouch End, wo das Labour-Büro ist, liegt in Haringey, ein weitläufiger Nordlondoner Bezirk, weder dem Rand noch dem Zentrum nahe. Der Fußballverein Tottenham Hotspurs ist hier zu Hause, die Sängerin Adele wuchs hier auf. 65 Prozent der 270.000 Bewohner*Innen sind keine Weißen. Im Westen liegen die teuren Villen von Highgate und Crouch End, im Osten düstere Sozialsilos. Im Westen kämpfen Labour und Liberaldemokraten um die Stimmen der Mittelschicht, im Osten fehlen Wahlplakate, viele Befragte wissen nicht, dass es Wahlen gibt.
Haringey ist Labour-Terrain, seit 57 Jahren. Nach zwei grauenhaften Kinderschändungsfällen 2009 wurde die Bezirksverwaltung zu einer der vier schlechtesten im ganzen Land gekürt. Die neue Labour-Bezirksbürgermeisterin Claire Kober, die 2010 ihr Amt antrat, sanierte die Schulen und sozialen Dienste und bewahrte bei den Kommunalwahlen 2014 die Labour-Dominanz, mit 49 von 57 Sitzen im Gemeinderat.
Ein ambitionierter Plan
2017 verlor Kober ihren Job – auf Betreiben der eigenen Partei. Die neue Corbyn-treue Führung warf ihr „soziale und ethnische Säuberung“ vor und erzwang ihren Rücktritt. Der Grund: ihr amibitionierter Entwicklungsplan HDV (Haringey Development Vehicle), der den Privatsektor in die Stadtsanierung einbezieht.
Als Kober 2010 ihr Amt in Haringey antrat, kam in Großbritannien die konservative Regierung von David Cameron an die Macht und setzte radikale Kürzungen bei den kommunalen Ausgaben durch: weniger Müllabfuhr, weniger Polizei, geschlossene Jugendeinrichtungen und Tagesstätten. Haringey, marode und überfüllt mit einer Warteliste von 9.000 Wohnungssuchenden, benötigte genau das Gegenteil: Neuinvestitionen, Wiederaufbau. Kober blieb nur die Suche nach privaten Investoren im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften.
Während der Labour-Bezirk Southwark wertvolle Stadtgebiete an Investoren verschleuderte, ließen sich Kober und ihr Team von Investoren nach Cannes einladen. Das Ergebnis: der ambitionierteste Stadtentwicklungsplan des Landes, ein 20-Jahres-Plan im Umfang von vier Milliarden Pfund für 6.400 neue Wohneinheiten.
Aber bei vielen Menschen klingelten die Alarmglocken. Der Nigerianer Antoni Margima, 35, berichtet im nigerianischen Restaurant seines Freundes über die Erweiterung des Fußballstadions Tottenham Hale direkt gegenüber. Hier verzichtete Haringey auf gesetzlich vorgeschriebene Investitionen durch die Bauherren, im Gegenzug blieb der Klub in Tottenham, aber es verdoppelten sich die lokalen Wohnungspreise. „Wenn es so weitergeht, muss ich wegziehen,“ sagt Margima.
Wird er weiter Labour wählen? Wen denn sonst, erwidert der Nigerianer.
Drogen, Alkohol, Bandenkriege, Prostitution
Nicht weit entfernt schwärmt Labour-Wählerin Chaachi Deane, 33, von ihrer neuen Eigentumswohnung in einem nagelneuen Hochhaus. Deane gehört nur ein Teil der Wohnung, den Rest zahlt sie als Miete. „Es war der einzige Weg für mich als Lehrerin,“ erzählt sie. In dem Wohnkomplex der Sozialwohngesellschaft Newlon erhielten viele der von der Stadionerweiterung betroffenen Mieter echte Sozialwohnungen – kein Vergleich mit ihren bisherigen, wie eine 30-jährige Inderin im dritten Stock ohne Lift eines heruntergekommenen 1960er-Jahre-Baus gleich nebenan erzählt. „Wenn Sie hier um neun Uhr abends herkommen, erleben Sie asoziales Verhalten in einer Dimension, die Sie sich nicht vorstellen können, und zwar täglich.“ Drogen, Alkohol, Bandenkriege, Prostitution.
Wählen will sie nicht: Die Versprechen seien alle die gleichen.
Als Corbyn 2015 Labour-Chef wurde, geriet Kober in die politische Isolation. Der Labour-Parteivorstand mischte sich ein. Vergeblich machte Kober geltend, dass ihr Deal besser sei als der in Southwark: Über 20 Labour-Ratsmitglieder traten unter Druck zurück, allen voran Claire Kober selbst, und neue, von der Corbyn-Basisbewegung Momentum ausgewählte Bewerber werden jetzt für ihre freiwerdenden Sitze aufgestellt.
Ob sie HDV unterstützen oder ablehnen, war der entscheidende Punkt, behauptet Aditya Chakrabortty, der für den Guardian über die Entwicklungen berichtet. So macht Labour in Haringey jetzt Wahlkampf gegen seine eigene Politik der vergangenen acht Jahre.
Jetzt schreibt sich jeder das Scheitern Kobers auf die Fahnen. Die Liberaldemokraten, einzige Opposition im Gemeinderat, behaupten, dass sie es waren. „Verstärkung wäre ideal für uns“, sagt Gemeinderätin Pippa Connor, 50, beim gemeinsamen Mittagessen mit Parteiaktivisten, „und ich glaube, wir schaffen das diesmal.“
Der eigentliche Urheber des Widerstandes war ein Grüner: Gordon Peters, 73, ehemaliger Direktor für soziale Dienste in Haringeys Nachbarbezirk Hackney. Entspannt erzählt er im Sessel eines Cafés, wie er eine juristische Prüfung des HDV-Projektes auf den Weg brachte. „Der Fall ist jetzt in der Revision“, berichtet Peters. „Nach dem Rücktritt von Kober versprach Labour, dass HDV angehalten sei. Ich glaube nicht, dass es weiterbetrieben wird.“ Macht es ihm nichts, dass seine Pionierrolle nicht mit Stimmen für die Grünen belohnt wird? „Schon, aber ich bin zufrieden, dass wir das Denken der Parteien in Haringey mitgestaltet haben“, sagt er. „Unser Einfluss ist klar.“
„Zeit, Geld zu zählen“
Im Osten Haringeys kann Labour auf die Armen und Minderheiten hoffen. Nach seiner Wahl gefragt, erwidert ein Schwarzer in der Nähe von Broadwater Farm: „Das ist doch klar, ich wähle meine Partei. Labour!“ Doch genau hier beginnt das Problem: Labour in Haringey heute ist die neue Momentum-Garde. Für andere ist Labour nicht mehr „meine Partei“.
Dave Cohen, 59, einer der drei Prozent jüdischer Menschen im Wahlkreis, war immer wieder Labour-Mitglied, erzählt er. Im Jahr 2000 verfasste er ein BBC-Hörspiel über rechten Antisemitismus. „Ich hätte mir damals nie ausmalen können, dass ich einmal ein Stück über linken Antisemitismus machen müsste“, sagt er. Denn der erzwungene Rücktritt Kobers und ihrer Mitstreiter hatte unangenehme Seiten: Als der jüdische Stadtrat Joe Goldberg angab, dass auch er nicht mehr amtieren werde, beschimpfte ihn der Momentum-Aktivist Shahab Mossavat auf Twitter mit den Worten: „Jetzt hast du wenigstens Zeit, Geld zu zählen.“
Kober selbst berichtete von einer offenen Konfrontation im Labour-Kreisverband, als sie letztes Jahr die internationale Definition des Antisemitismus annehmen wollte. Nur unter Geschrei vom ultralinken Flügel konnte der Antrag angenommen werden. Sie spricht von Mobbing und sexistischen Angriffen. Dass sich Sympathisanten des ultralinken Randes der Partei vollkommen daneben benehmen, berichten auch Liberaldemokraten – es gehe bis zu körperlichen Angriffen an Wahlkampfständen.
Labour selbst äußert sich zu all dem nicht. Anfragen werden abgewiesen. Laut einem Insider hat der Kreisverband Haringey seinen Kandidaten einen Maulkorb auferlegt.
Nicht weit vom Labour-Büro in Crouch End erzählt Vanessa Corcea, 38, von ihren Plänen wegzuziehen, während ihr Mann noch glaube, dass die Liberaldemokraten die Lösung seien. „Ich habe eine Tochter in der Mittelschule und mein Sohn wird bald mit der Grundschule fertig sein. Vor Kurzem wurden hier in unmittelbarer Nähe drei Jugendliche abgestochen. Ich habe keine Lust, mitzuerleben, wie mein Sohn sich in dieser maskulinen gewalttätigen Welt bewegen wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW