piwik no script img

Kommentar „Zukunft des Lesens“Zurück in die Vergangenheit

Daniél Kretschmar
Kommentar von Daniél Kretschmar

Das Beharren auf bedrucktem Papier als überlegenem Informationsspeicher ist sinnlos. Es verhindert die produktive Aneignung neuer Medien.

Das Blatt Papier: ein beinahe religiöser Platzhalter für den Wunsch nach Sicherheit und Stabilität Foto: dpa

1 30 WissenschaftlerInnen aus dreißig Ländern haben vier Jahre unter dem Titel „Evolution of reading in the age of digitisation“ dazu geforscht und diskutiert, inwieweit Lesekompetenz und kognitive Entwicklung sich auf digitalen Geräten verändern. Unter der Leitung der norwegischen Bildungswissenschaftlerin Anne Mangen ist das Projekt nun zu einem Ergebnis, der Stavanger-Erklärung, gekommen.

Darin wird auf Grundlage einer Metastudie, der nach Angabe des Projekts wiederum 54 Einzelstudien zugrunde lagen, festgestellt, dass vor allem bei längeren Informationstexten das Lesen auf Papier zu einem besseren Verständnis als an Bildschirmen führe. Daraus wird gefolgert, dass einerseits Methoden und Technologien entwickelt werden müssten, die Kindern und Jugendlichen einen vertieften Zugang zu Texten auch an technischen Geräten ermögliche. Andererseits wird jedoch mit Inbrunst betont, dass das Lesen auf Papier eine unverzichtbare Kulturtechnik sei, die zumindest für bestimmte Textformen auch in Zukunft unbedingt gefördert werden müsse.

In Interviews und Texten einzelner Beteiligter wurde in der Vergangenheit zwar immer wieder betont, dass es ihnen nicht darum ginge, die Digitalisierung aufzuhalten, sondern darum, sie bewusst zu gestalten. Das Beharren auf dem Papier als überlegenem Medium jedoch offenbart beispielhaft gleich mehrere Schwachstellen in der Analyse, die von unterschwelliger, dabei ahistorischer und unpolitischer Technikfeindlichkeit zeugen.

Technologischer Fortschritt allein ist natürlich kein glückselig machender Weltenverbesserer. Im Gegenteil, der unbedingte Glaube an die Heilsversprechen industrieller und digitaler Revolution trägt in sich bekanntermaßen immer den Samen für neue Ungerechtigkeiten, Konflikte und nicht zuletzt Verarmung – sowohl kultureller als auch materieller Art.

Potentiale in beide Richtungen

Jede neue Entwicklungsstufe menschlicher Zivilisation ist rabiat errichtet auf den Trümmern ihrer Vorgängerinnen, deren Leistungen und Erkenntnisse erst Geröll, dann Sand, dann nichts werden. Der Prozess erzeugt Gewinner, und vor allem jede Menge Verlierer. Diese Verlierer scheitern aber nicht an neuen Technologien, die ihre geistige oder sonstige Entwicklung beschränken würden. Keine Technologie tut das von sich aus. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen lernen, arbeiten und leben halten sie klein – oder machen sie eben größer. Technologie erhöht die Potentiale in beide Richtungen.

Die äußeren Faktoren, die bestimmen, wie die entsprechenden Technologien zu wessen Nutzen und Profit verwendet werden, außer acht zu lassen, ist aber nicht das einzige Problem mit der Stavanger-Erklärung. Ein anderes liegt in der wahrscheinlich unbewussten Verschränkung des Blicks auf Vergangenheit und Zukunft. Das Wissen um ein versunkenes Früher, dessen Kulturtechniken und Traditionen, Lebens- und Arbeitsweisen, seine Eliten und niederen sozialen Klassen (soweit sie hinreichend Spuren hinterlassen) ist traditionell den Archäologen vorbehalten.

Die zeichnen mit im Heute geformten Augen und Ideen Bilder des Vergangenen. Je schneller nun der Wandel der Welt voranschreitet, inzwischen in mehreren gewaltigen Schritten schon in der Lebensspanne eines Menschen, umso häufiger treffen wir auf eine Art ungewollte Archäologie des noch selbst Erfahrenen.

Die Geschichte des Fortschritts und seiner möglichen nächsten Hakenschläge wird so seit der ersten industriellen Revolution von Menschen geschrieben, die sich selber jeweils an ein Davor erinnern. Diese Erinnerung ist einerseits eine wertvolle und potentiell lehrreiche Brücke in die Vergangenheit, gleichzeitig erzeugt sie aber viel zu oft eine kognitive Mauer vor der Zukunft. Trotz aller Vorsicht gelingt es nun dem E-Read-Projekt nicht, die Kollision mit dieser Mauer zu vermeiden.

Wunsch nach einer Atempause

Gefangen in einer Gegenwart, die sich, gespeist aus eigener Erinnerung, bereits wie eine Science-Fiction-Dystopie anfühlt, wird die Zukunft zur Projektionsfläche von Ängsten und Unsicherheiten, statt Hoffnungen und Möglichkeiten aufzuzeigen. Es fehlen schlicht die Phantasie und die Kraft, sich ein im positiven Sinne radikal anderes morgen vorzustellen oder es auch nur zu wollen. Das Blatt Papier, als in der Erinnerung quasi naturgegebenes Medium zur Informationsbewahrung und -vermittlung wird dann ganz schnell ein beinahe religiöser Platzhalter für den Wunsch nach einer Atempause, nach Sicherheit und Stabilität.

Wissenschaft, die sich mit solchem Konservatismus selbst beschränkt, und letztlich nur gefühlig den jämmerlichen Status Quo vor zu großen Veränderungen schützen will, macht sich überflüssig. Für jene, die sich – ganz schlicht gesagt – eine tatsächlich bessere Welt erhoffen, ist dieser verstohlen sehnsuchtsvolle Blick zurück ganz sicher keine Hilfe.

Derweil sind den fortschrittsbesoffenen und kapitalstarken Technologiekonzernen die akademischen Mahnungen herzlich egal. Im Zweifelsfall erkauft man sich das Wohlwollen mit ein paar Stiftungsprofessuren und verschenkt die Überproduktion Tablets an Schulen. Im Ergebnis bleibt dann alles wie es ist: mit neuen teuren Gadgets für die einen, Papier für jene mit sentimentalem Distinktionsbedürfnis, und ansonsten klaren Verhältnissen für alle.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Daniél Kretschmar
Autor
Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Newsletter unter: https://buttondown.email/abgelegt
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Dieser Kommentar offenbart vor allem, dass der Autor nicht den geringsten Schimmer von Wissenschaft hat. Ich kann auf eine Metaanalyse nicht mit einem Meinungsstück antworten und ein solides empirisches Ergebnis als nostalgischen Konservatismus abtun. Dass das Leseverständnis auf Papier besser ist, ist ein empirisches Ergebnis, nicht die persönliche Meinung der beteiligten Wissenschaftler. Kritisieren Sie die Studienmethodik oder führen Sie am besten Ihre eigene Metaanalyse durch. Dann können Sie sich fundiert zum Thema äußern und die empirischen Ergebnisse anzweifeln. Ansonsten schweigen Sie sich bitte aus. Diese Art von Journalismus ist es, die zur Erosion der gesellschaftlichen Legitimität von empirischer Forachung beiträgt. Stichwort Klimawandel oder Dieselabgase. Einfach mal anderer Meinung sein und ignorieren, dass die eine Seite fundierte empirische Argumente hat, die andere aber nicht.

  • Wußt ich’s & Zisch & Mailtütenfrisch-;)

    “Glück Auf!







    Natürlich ist das Haptische



    stets gut für das Synaptische.







    Alles, was das Papierbuch kann, kann natürlich elektronisch



    nachgestellt werden. Und es gibt Möglichkeiten, die mit Papier



    nicht gegeben sind, z.B.: Textteile schnell finden. Solche Funktionen



    sind schon sehr angenehm. Und für jene, die das Blättergeräusch



    brauchen, kann ja eine Raschel-App eingebaut werden.







    Junge Menschen kaufen keine Bücherregale mehr...







    Natürlich will ich ordentliche Dateien, deren Verwaltung



    meiner eigenen Kontrolle unterliegen, keine ominösen



    Cloudgeschichten, wo dann Texte womöglich verschwinden.







    Für LeserInnen, die in Papiertexten markieren und evtl. Notizen



    machen: Die Möglichkeiten gibt es für elektronische Dokumente



    schon längst. Und für angebrachte Markierungen gibt es sogar



    Suchfunktionen.







    Was kann mit alten Büchern gemacht werden? Google-books hat



    gezeigt, dass es möglich ist, alte Bücher einzuscannen und



    "der ganzen Menschheit" vverfügbar zu machen.







    Eigentlich wunderbar, aber hier müssen natürlich Regeln für Copyright



    und Vergütung her. Dass irgendwann auch die ganze Literatur



    "werbefinanziert" sein wird, wie das sonstige Internet, kann nicht



    gewünscht sein.







    and btw - bereits im Oktober 2012 schrieb hier ein Einäugiger:



    www.taz.de/!5082519/







    Gut erzählt - wird nicht gepfählt. Newahr - auch wieder klar.

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Zeitungsartikel und Nachrichten lese ich grundsätzlich digital, Fachbücher und Literatur ausschließlich in Buchform.

  • Also ich finde diese Diskussion irgendwie unnötig. Im Endeffekt kommt es doch auf die richtige Mischung an und nicht auf ein entweder-oder. Ja vielleicht kann man bzw. Kinder im Durchschnitt längere Texte lesen, wenn sie ausgedruckt sind. Aber: Aufnahmefähigkeit ist sehr situativ. Ich selbst kenne von mir, dass ich Tage oder Stunden habe, an denen kann ich gar nichts aufnehmen, das schwarz-auf-weiss vor mir liegt und dann helfen Bilder, Videos, kurze Erklärungen ungemein, um trotzdem produktiv sein zu können.

    Genauso geht es doch auch Kindern. An meinem Sohn merke ich, dass er je nach Tageszeit unterschiedliche Bedürfnisse hat, wie er etwas aufnehmen möchte. Allen gemein ist, dass er eigentlich fast immer auf Aufnahmemodus ist. Nur das "Wie" ist unterschiedlich.

    Ich finde, die schreiben hier: www.kinderzeit.org...ichtlinien-kinder/ ganz gut, dass die Eltern sellbst ein Vorbild sein sollten. Dabei finde ich, sollte man nicht nur Vorbild sein, sondern auch an sich selbst beobachten, was gut funktioniert und was nicht hinsichtlich Lernstrategien. Und dann sein Kind so behandeln, wie sich selbst :)

  • Was für eine engstirnige Perspektive. Trotz aller Vorteile digitaler Verfügbarkeit von Texten, die der erste Kommentator bereits formuliert hat, scheinen dem Autor die Schwierigkeiten, welche sich mit der digitalen Bereitstellung von Medien verbinden, entweder nicht bewußt oder egal zu sein. Die langfristige Konservierung und Bereitstellung digitaler Texte ist bekanntlich keineswegs unproblematisch und dieser Aspekt stellt den Pferdefuß an der ganzen Digitalisierung dar: Es sind immer bestimmte technische Voraussetzungen notwendig, um eine Konsultation der Medienträger zu gewährleisten, die bei einer "analogen" Konservierung entfallen. Und gerade diese Problematik macht z. B. Archiven schwer zu schaffen. Da ist die Reduktion dieser Frage auf die Dichotomie progressiv vs. konservativ einfach nur armselig.

  • Dieser Kommentar ist inhaltlich sehr schwach, nach dem Motto "weil nicht sein kann was nicht sein darf".



    Wenn eine, wissenschaftlich gut gemachte, Studie zu einem Ergebnis kommt, sollte man dies erst einmal wahrnehmen. Dann kann man überlgen, ob es methodische oder andere Fehler gibt und, falls ja, diese Arbeit und ihre Ergebnisse kritisieren. Das macht der Autor nicht, sondern kritisert das Ergebnis als technikfeindlich.



    Das ist es aber nicht, sonderndie Ergebnisse sagen ja nur aus, wie wir besser mit digitalisierten Texten umgehen könnten, um sie besser zu verstehen: nämlich ausdrucken, wenn wir wirklich einen Text durchdringen und verstehen wollen. Mit einem Zeitungsartikel würden man das eher nicht machen, mit einer wissenschaftlichen Publikation schon. Die grossen Vorteile eines digitalisierten Textes liegen darin, dass er einfachn zu finden und zu besorgen ist (ausser er ist in einer Elsevier oder Springer Zeitschrift, diese Verlage verlangen teils 45 Euro, um einen Artikel zu lesen, man muss sich also auf den Weg in eine grosse (!) (Uni)Bibliothek machen, da kann man so einen Artikel dann runterladen, und auch das ist natürlich viel schneller als vor 25 Jahren, als man in ein Kellerarchiv steigen und ein dickes Buch zum Kopierer schleppen musste).

    Kurz zusammen gefasst: wir sollten die Vorteile der Digitalisierung nutzen - z.B. Texte finden und (relativ) einfach besorgen, aber ihre Nachteile - hier schlechteres Textverständnis beim lesen auf digitalen Geräten - nicht ausblenden, sondern bewusst entscheiden, auf welchem Medium wir lesen - ob Papier oder Bildschirm.

  • Hä? Ich verstehe es nicht. Wozu die letzten 5/6 des Textes - außer dass der Autor es halt schon immer mal sagen wollte. Es sind auch prinzipiell Punkte dabei, die mir nicht unsympathisch sind. Stavanger stellt klar: wir brauchen geeignete Technologie und Methoden, um vertieftes Textverstehen auch an elektronischen Geräten zu ermöglichen. Die Förderung des Lesens auf Papier - zumindest für einige Genres - steht dem doch nicht entgegen. Die "Inbrunst" kommt daher, dass die angemahnten Lehrmethoden und Technologien eben noch nicht zur Verfügung stehen, die Notwendigkeit für vertieftes Textverständnis aber nicht mal eben für ein oder zwei Generationen von Schülern ausgesetzt werden kann.