Kommentar Zeitumstellung: Zeit muss weh tun
Nun werden die Uhren wieder umgestellt. Vielleicht zum letzten Mal? Sicher ist zumindest: Über nichts wird so erbittert gestritten wie über Zeit.
Der halbjährlichen Zeitumstellung hat nun wohl auch in der EU ihr letztes Stündchen geschlagen. In einer Online-Befragung der EU-Bürger stimmten über 80 Prozent gegen die Umstellung und von diesen wiederum die meisten für eine dauerhafte Beibehaltung der Sommerzeit.
„Sommerzeit“, das klingt in ihren Ohren einfach gut. „Geilomat“, denkt es in ihnen schwer auf Sparflamme, „für immer Sommerzeit, alter Schalter – ich schmeiß erst mal die ganzen dicken Klamotten weg.“ Ein fataler Fehlschluss. Denn die Sommerzeit kann zwar tatsächlich etwas Schönes sein, aber eben nur zur entsprechenden Jahreszeit.
Die Sommerzeit im Winter ist hingegen ein Muster ohne Wert. Sie heißt dann einfach nur so (Ähnliches kennen wir vom „Walfisch“ und vom „Falschen Hasen“), es schneit aber trotzdem – das haben vor allem die hoffnungsfrohen Finnen nicht bedacht, die die Umfrage initiierten.
Im Zuge des Klimawandels bekommen die Idioten dennoch Oberwasser. Auf einmal erscheinen ihre kindlich anmutenden Wünsche wider Erwarten doch erfüllbar: das ganze Jahr lang Ferien; Bushäuschen aus Lebkuchen; Oma, Bello und Miezi sollen niemals sterben; für immer Sommerzeit. Freibad im November, Kirschen im Februar. 2018 lief die Chose ja immerhin schon nonstop von Anfang April bis Mitte Oktober. Die fehlenden fünf Monate kriegen wir auch noch warm und trocken.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der Preis, den zukünftige Generationen dafür bezahlen, ist den Sommerfreaks egal. Nach ihnen die Sintflut. Das ist allerdings sehr kurzsichtig gedacht, denn wenn es in unseren Breiten nur noch Sommer gibt, wird es früher oder später auch mit Miezi, Bello, Oma und den Idioten selbst den Bach runtergehen. Kann das den Leuten bitte einer mal erklären?
Ein Flickenteppich der Zeitzonen
Die Abschaffung an sich soll dann EU-weit gelten. Es bleibt jedoch den einzelnen Staaten überlassen, ob sie sich für permanente Sommer- oder Winterzeit entscheiden. Bei dem zunehmenden Zerfall Europas in Klein- und Kleinststaaten (nächste Kandidaten: Sachsen, Schottland, Fifa) werden wir bald alle hundert Kilometer die Uhr umstellen dürfen. Das ergibt einen Flickenteppich der Zeitzonen, ähnlich den Zoll- und Grenzschranken im Deutschland des Mittelalters.
Apropos Deutschland. Das Verhältnis der Deutschen zu Uhr- und Jahreszeit scheint im Vergleich zum Rest der Welt ein ganz besonderes, ja nachgerade fanatisches zu sein. So kamen 70 Prozent der europäischen Umfrageteilnehmer aus Deutschland – und das bei 28 teilnehmenden Ländern. In Deutschland nahmen damit fast 4 Prozent der Bevölkerung teil – in Großbritannien waren es 0,02 Prozent.
Wie herrlich man in Deutschland über die Zeit streiten kann. Eine derartiges Engagement für die tote Essenz der Langeweile sucht man im Rest der Welt vergeblich. Während sich andernorts Mode und Esskultur entwickelten, stellte man überall in Deutschland öffentliche Uhren auf, weithin sichtbare Säulengötzen zur Anbetung der Pünktlichkeit und zur Eile mahnend. Immer neuere, lautere, dissonantere Wecker wurden entwickelt, Teufel mit Uhrwerk und Geißeln der Menschheit.
Bei der Zeit hört der Spaß auf
Zeit muss wehtun – da versteht der Deutsche keinen Spaß. Auch in Kunst und Kultur, Politik und Geschichte kommt man um die Zeit nicht herum. Volkslieder sind voller Anspielungen auf die Jahreszeit; zahllose Redewendungen von „Morgenstund hat Gold im Mund“ über „Früher Vogel fängt den Wurm“ bis hin zu „Die Zeit heilt alle Wunden“ heben die zentrale Bedeutung der Zeit hervor. Bei der Bestimmung historischer Zeiträume geht es mit den Deutschen sogar derart durch, dass an dieser Stelle die gewohnte Logik zu leiden beginnt.
So werden die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 von den einen „tausendjähriges Reich“ genannt, während dieselbe Epoche von anderen als „Fliegenschiss“ bezeichnet wird. Gegen solche Messtoleranzen wirkt selbst ein System aus Gallonen, Zoll und Steinen wie ein Ausbund an metrischer Strenge.
Doch warum sollten die Deutschen als Lohn für ihre Besessenheit nicht auch eine eigene Zeitmessung bekommen? Schließlich hatten sie ja auch mal eine eigene Währung, eine eigene Schrift und sogar fast so etwas wie eine eigene fucking Sprache. Eine „Deutschstunde“ wäre dann zum Beispiel unterteilt in hundert Ratzebühler zu je zwanzig Schoten. Und vier Monate reichen völlig, das sind dann zugleich die Jahreszeiten: Pullunder, Gisela, Schnuffi und Beckenbauer.
Deutsche Chronometer
Von hoher Bedeutung sind für die Deutschen naturgemäß die Chronometer. So war der Nürnberger Peter Henlein einer der ersten Hersteller tragbarer Uhren. Und auch die Rolex haben nicht die Schweizer erfunden, sondern der Firmengründer aus Deutschland. Während andere Völker Impfstoffe, elektrische Masturbationshilfen und Kommunikationstechniken erfanden, zeigte sich Deutschland stets führend in allem, womit man schießen, Sachen kaputtmachen oder zur Eile antreiben konnte.
Darauf ist man offensichtlich stolz. So dürfen Ausländer keine Uhr haben und schon gar keine teure. „Ausländer“ sind für die Uhrenwarte traditionell auch Deutsche, die ihre Wurzeln außerhalb der Reichsgrenzen von 1937 haben.
Das musste kürzlich die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli feststellen, die von Hass-Kommentaren überflutet wird, seit ein User ein Bild von ihr mit Rolex am Arm ins Netz stellte. Denn die Kameltante kann eine solche Armbanduhr ja nur gestohlen oder mit unredlich verdientem Geld (Drogen? Hütchenspiel? Manipulierte Kakerlakenrennen?) erworben haben, während der deutsche Michel darbt. Bei Uhren wie bei Autos versteht er keinen Spaß.
Keinen Spaß verstand auch der Zoll am Münchner Flughafen, als der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern, Karl-Heinz-Rummenigge, mit zwei „von einem Freund geschenkten“ Rolex aus Katar zurückkehrte und diese nicht verzollen mochte. So gab es hier selbst für den blonden Mann mit den blauen Augen einen saftigen Strafbefehl. Hasskommentare blieben freilich aus und die Würde des ehemaligen Fußballstars unangetastet.
Ich will die Zeitumstellung
Aber zurück zur Zeitumstellung. Bloß ein paar Aufrechte sind noch für deren Beibehaltung, unter ihnen der Autor dieser Zeilen sowie zwei oder drei weitere Leute jenes schwierigen Alters, in dem jede Veränderung Unwohlsein auslöst.
Doch es gibt ja auch noch einen dritten Weg. So schreibt Leser Wolfgang K. aus Salzgitter in der Braunschweiger Zeitung zu dem Thema: „Ich denke, für die Menschen, für Flora und Fauna wäre es das Beste, es so zu belassen, wie es die Natur seit Menschengedenken eingerichtet hat: keine Sommerzeit, keine Winterzeit. Einfach nur Normalzeit!“
Jawollo. Mit dieser Haltung dürfte er sich auf einer Linie mit Erich von Däniken und Beatrix von Storch befinden: Die Zeit ist doch schon ganz natürlich da. Was maßt sich der Mensch an, sie in ein Korsett aus frei erfundenen Einheiten zu zwängen und an diesem dann auch noch herumzuschrauben? In enge und hässliche Uhren gesperrt, mit drückenden Zeigern versehen und vom Menschen derart widersinnig eingeteilt, dass sie lachen würde, wäre ihre Situation nicht so schrecklich, tickt die Zeit traurig vor sich hin.
Kein Wunder, dass Flora und Fauna unter solchen Umständen verrückt spielen, denn sie sind die Kinder der Zeit. Dachse steigen, Züge verspäten sich und Bäume fallen einfach um. Lassen wir der Zeit doch einfach ihren freien Lauf. Sie wird es uns danken: mit mehr und besserer Zeit. Mit Freizeit. Dann wird am Ende vielleicht doch noch alles gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch