Kommentar Venezuelas Provokateur: Chávez ist nicht durchgeknallt
Mit seiner Lust an der Polemik gelingt es Chávez oft, die eigentlichen Themen überhaupt erst in die Medien zu bringen. Diesmal ist es seine Alternative zum Neoliberalismus á la Merkel.
GERHARD DILGER ist Südamerika-Korrespondent der taz.
Wieder einmal hat Hugo Chávez eine seiner berüchtigten Attacken gefahren. Angela Merkel gehöre "der deutschen Rechten an, derselben, die Hitler und den Faschismus unterstützt hat", sagte Venezuelas Ölsozialist in seiner TV-Show "Aló Presidente". Wie nach seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung 2006, als er George W. Bush als "Teufel" bezeichnet hatte, dürften sich nun so einige fragen: Ist Chávez jetzt völlig durchgeknallt?
Nein - mit seinem gezielten, im Plauderton vorgetragenen Affront reagierte Chávez auf die Aussage der Bundeskanzlerin, er sei nicht die Stimme Lateinamerikas. Noch mehr dürfte ihn Merkels oberlehrerhafte Abmahnung der Linksregierungen gereizt haben, die angeblich die Teilhabe ihrer Bürger am Wohlstand erschwerten.
Dies nämlich ist der Kern der politischen Kontroverse: Können Chávez, Morales & Co. die Lage der Armen in ihren Ländern dauerhaft verbessern, indem sie die Rolle des Staates in der Wirtschaft stärken? Wirtschaftsliberale wie Merkel, deren Deutungshoheit in der EU fast grenzenlos scheint, bestreiten dies. Dabei übersehen sie geflissentlich: Die Wahlerfolge der Latino-Linken seit 1998 sind vor allem eine Reaktion auf zwanzig Jahre ungebremsten Neoliberalismus, durch den Millionen in Armut gestürzt wurden. Dass es schwierig ist, dem funktionierende Alternativen entgegenzusetzen, erfahren die Regierungslinken tagtäglich.
Immerhin behindert sie die Handels- und Investitionsoffensive der EU mehr als irgendeinen anderen Erdteil. Dies ist aus der Sicht Merkels das eigentlich Störende an Chávez, der auf dem Subkontinent alles andere als isoliert ist. Brasiliens moderater Staatschef Lula lobte ihn jetzt im Spiegel als "besten Präsidenten Venezuelas in den letzten hundert Jahren", was Chávez wiederum genüsslich zitierte. Der Einfluss des Venezolaners werde jedoch gerne überschätzt, ergänzte Lula zu Recht, Europa brauche keine Angst vor den Linken in Lateinamerika zu haben.
Mit seiner Lust an der Polemik gelingt es Chávez oft, die eigentlichen Themen überhaupt erst in die Medien zu bringen. Manchmal gehen sie im anschließenden Getöse unter, doch das nimmt er in Kauf.
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