Kommentar Streik im öffentlichen Dienst: Streiken ist auch ’ne Kunst
Mit den Warnstreiks an Flughäfen und in Kindergärten kämpft Ver.di um die Kaufkraft der Mittelschicht. Doch die Gewerkschaft muss vorsichtig sein.
I mmer etwas genervt, aber stets freundlich und im Zweifel solidarisch antworten Bürger im Fernsehen auf die Frage, was sie von den Warnstreiks im öffentlichen Dienst halten: „Okay“, „geht schon“, „verständlich“, aber eben auch: „Bitte nicht zu lange“.
Warnstreiks im öffentlichen Dienst sind für die Gewerkschaft Ver.di immer auch eine Kunst. Sie muss ein Gefühl von Druck erzeugen, die Belastungen einigermaßen gerecht verteilen und genug Identifikationspotenzial anbieten, damit die Streikenden nicht als rücksichtslose Minderheit erscheinen. Nur dann lässt sich in der Gesellschaft eine Haltung erzeugen, die einen Warnstreik akzeptiert wie einen Dauerregen im April, weil er irgendwie dazugehört.
Die Belastungen sind derzeit einigermaßen fair verteilt. Sie treffen nicht nur Mütter oder Väter, die ihre Kinder nicht in die Kita bringen können und vielleicht sogar einen Extra-Urlaubstag nehmen müssen. Auch Geschäftsleute, die nicht zum Meeting fliegen können und daher auf die Bahn umsteigen müssen, sind betroffen. Wobei ein Streik auf Flughäfen in den Medien immer einen viel breiteren Raum einnimmt als Ausstände in Kindertagesstätten, was ein Licht auf gesellschaftliche Wertigkeiten wirft.
Das Identifikationspotenzial gegenüber den Streikenden ist auch gegeben, denn eine Bezahlung von 1.600 Euro netto für eine berufserfahrene Erzieherin ist niedrig und reicht, wie jeder weiß, nun mal kaum aus für hohe Mieten, Zahnersatzkosten, eine private Altersvorsorge und die Unterhaltskosten für ein Kind.
Der Warnstreik zeigt, worum es in den bräsigen Zeiten der Großen Koalition gehen wird: um die Kaufkraft der unteren Mittelschichten und wie man mit einem kleinen Gehalt ein Leben lang klarkommt. Das klingt undramatisch. Ist es aber nicht. Genau deswegen muss man Ausstände wie derzeit im öffentlichen Dienst auch als Kunde unbedingt aushalten können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin