Kommentar Sprachnachrichten: Das ist geistiger Missbrauch
Viele Menschen finden es praktisch, mit dem Smartphone Sprachnachrichten zu verschicken. Schlimm ist es für die, die damit zugemüllt werden.
M it echter gesprochener Kommunikation ist es wie mit einem Ballspiel. Ein Anruf, eine Frage, der Anfang eines Gesprächs, das ist ein Angebot. Ich signalisiere: Ja – oder eben Nein. Bei Ja folgt ein Passspiel, hin und her, du und ich. Echter Austausch eben.
Mit Sprachnachrichten auf WhatsApp ist das anders. Da nimmt das Gegenüber den Ball und haut ihn mir in die Fresse. Danach liegt der Ball in meinem Feld, und ich bin dran. Ob ich will oder nicht.
Sprachnachrichten sind eine Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber ohne Sinn und Verstand. Das ist kein Angebot zur Kommunikation, das ist geistiger Missbrauch.
Für alle Glücklichen, die nicht wissen, was eine Sprachnachricht ist: 2013 hat WhatsApp, der bekannteste Messengerdienst für Smartphones, die Möglichkeit eingeführt, neben Texten und Bildern auch Audiodateien zu verschicken. Im Chatfenster muss man einen Knopf gedrückt halten, labert drauflos, und beim Loslassen sendet sich die Datei von selbst.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zumindest war das am Anfang so. Meiner Meinung nach eine Schutzfunktion, damit dem Versender irgendwann der Daumen abfault und die Nachricht dadurch kürzer bleibt. Heute gibt es eine Zusatzfunktion, die es ermöglicht, dass man freihändig sprechen kann und erst bei einem weiteren Drücken auf den Knopf die Nachricht versendet. Gut für alle, die sich selbst gerne reden hören. Schlecht für den Rest vom Fest, der das ertragen muss.
Okay, es gibt eine Ausnahme: Für Menschen mit Behinderungen, die es ihnen erschweren, auf Handydisplays lange Texte zu schreiben, sind Sprachnachrichten eine gute Sache. Klar! Wobei auch die sich gern vorm Abschicken überlegen können, wie ausführlich sie die Sprachnachricht halten. Für alle anderen gilt das erst recht.
Die größte Frechheit, die mir dabei je begegnet ist, war 9 Minuten und 43 Sekunden lang. Mit einem harmlosen „Pling“ kündigte sie sich an, rechts oben auf dem Handy blinkte ein kleines Licht in Dünnschissorange. Die Aggression rumorte in meinem Kopf: Was zur Hölle will man mir in 9 Minuten und 43 Sekunden sagen? 100 Euro, dass es nur unwichtiges Zeug ist, wettet mein Gehirn mit sich selbst.
Ich ärgere mich, weil ich weiß: Ich werde sie trotzdem anhören. Warum? Weiß ich nicht. Ich fühle mich unter Druck. Der Ball liegt in meinem Feld, und ihn liegen lassen, das tun nur Spielverderber. Außerdem habe ich keine Lust auf eine Diskussion à la „Warum antwortest du nicht, alles okay?“.
Die größte Frechheit war 9 Minuten und 43 Sekunden lang
Dabei ist die große Frage: Wie soll ich denn bitte antworten? Mein Gegenüber hat sich ja selber gegen ein Telefonat und für diesen Audiomüll entschieden, für ein Format, das keine Zwischenrufe, Nachfragen, nicht mal „Ach so“ und „Hmmmhmms“ zulässt. Meine Kommentare darf ich jetzt post disputatio anbringen. „Ja, Mensch, klasse. Das, was du bei Minute drei gesagt hast, klingt spannend.“ So?
Und abgesehen davon: Was soll ich denn überhaupt antworten? In Sprachnachrichten werden meistens keine Fragen gestellt. Soll ich das Erzählte einfach anschließend loben, einordnen und kommentieren? Oder soll ich im Gegenzug auch über meinen Tag sinnieren? Bestimmt nicht. Wenn man ehrlich ist, sind Sprachnachrichten Kommunikationssackgassen. Eine Runde Märchenstunde. Völlig sinnbefreite Datenmenge. Sie gehören abgeschafft.
Stattdessen drücke ich auf Abspielen. Schnell das Handy ans Ohr, damit nicht alle mithören können. Wer bis jetzt noch dachte: „Ach, Sprachnachrichten, alles halb so wild“, dem gönne ich folgende Kostprobe von Herzen.
„Heeeeeeey, ich bin’s, ich wollte dir nur mal ’ne Nachricht dalassen.“ Ach echt? „Ich sitze gerade auf der Couch, eingemummelt in meine Kuscheldecke, und draußen regnet es ganz fürchterlich. Heute ist allgemein so ein grauer Tag. Mann, mann, die Kälte macht mich echt fertig. Und unseren Kater auch, der will gar nicht mehr richtig raus. Ist es bei euch in Berlin auch so kalt? Na ja, egal.“ Ja, stimmt, egal. Wen interessiert’s? „Gestern war ich Geschenke kaufen, ich weiß, es ist eigentlich viel zu früh für Weihnachtsgeschenke, aber die Lebkuchen, die im Laden liegen, machen mich schon ganz nervös. Haha.“
Als Teenager habe ich Tagebuch geschrieben. Genauso wirr und zusammenhanglos. Aber hallo, ich war 13, und noch dazu habe ich niemanden belästigt. Papier ist geduldig. Ich bin es nicht.
Sprachnachrichten sind die große peinliche Tante von Textnachrichten. Anders als geschriebene Nachrichten verlangen sie meine volle Aufmerksamkeit. Überfliegen ist nicht. Den ganzen Müll in einer normalen Textnachricht aufzuschreiben, das würde sich gleichzeitig kein Mensch antun. 9 Minuten und 43 Sekunden Laberrhabarber entsprechen, ich habe das mal getestet, ungefähr 15.000 Zeichen Text. Das ist ziemlich genau die doppelte Länge dieses Artikels.
Kann ein Monolog Teil eines Dialogs sein? Natürlich nicht
„Für Philipp habe ich Beats-Kopfhörer besorgt, die schwarzen, die neuen. Waren echt teuer, aber der Klang soll sehr gut sein. Na ja. Was wollte ich noch sagen? Ähm …“ Ja, genau, was wolltest du eigentlich sagen? „Ach, genau, am 19. kommt meine Schwester zu Besuch, irgendwie hat ihr Freund Schluss gemacht, und ihr geht’s nicht so gut. Ich habe gesagt, sie kann gerne jederzeit kommen. Sie wollte dann erst nicht so richtig, aber jetzt kommt sie doch.“ Vier Minuten sind vorbei, und ich fühle mich schmutzig. Benutzt.
Wann haben Menschen damit angefangen, anderen Menschen einfach ihren gedanklichen Sondermüll vor die Füße zu kippen? Nicht dass man sich unter Freundinnen nicht alles haarklein erzählen kann, aber dann doch bitte mit irgendeiner Richtung. Entweder man will einen Rat, eine Reaktion oder einfach nur gemeinsam lachen. Das geht aber nur, wenn man miteinander kommuniziert und nicht eine Sprachnachricht schickt. Denn wie kann ein Monolog Teil eines Dialogs sein? Richtig, geht nicht. Aus gutem Grund habe ich keine Mailbox. Wer etwas will, ruft noch mal an.
„… und darum habe ich beschlossen, die Haare wieder wachsen zu lassen. Mir geht die Kurzhaarfrisur auf die Nerven.“ Durchhalten, sagt es in meinem Kopf. Vielleicht kommt am Ende ja doch noch eine Frage, die ich beantworten muss, oder wider Erwarten noch eine wichtige Info. Die Angst, was zu verpassen, hält mich bei der Stange.
8 Minuten sind vorbei und meine Hand schläft langsam ein. Von außen betrachtet, sehe ich vermutlich aus, als würde ich in der längsten Warteschleife der Welt hängen. Handy am Ohr, aber Mund zu. „… ah, habe ich schon erzählt, dass Lisa und Lena umziehen? Nach Hildesheim. Die wollten noch vor Weihnachten alle Möbel hochfahren, haben sie gesagt. Völliger Irrsinn, ich habe dann gesagt sie sollen es im neuen Jahr machen. Lena meinte, okay. Dann können wir ja auch beim Packen helfen. Genau. Na ja. So. Puh, jetzt habe ich aber lange gequatscht. Haha. Ich freue mich, von dir zu hören, bis baa-haald.“
Das war’s. Keine einzige Frage, nur ein Haufen Gedankensalat. Mein Gehirn schuldet sich selbst 100 Euro. Und meine Freundin schuldet mir 9 Minuten und 43 Sekunden Lebenszeit.
Ich bin erschöpft und sauer und ratlos. Aber wenigstens eine Erkenntnis hat’s gebracht: Meine Freundin bekommt ein Tagebuch von mir. Sofort nach der Arbeit werde ich eins kaufen. Kriegt sie zu Weihnachten, die blöde Kuh.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an