Kommentar Rot-Rot-Grün in Thüringen: Wagt den Praxistest!
Rot-Rot-Grün in Erfurt ist ein riskanter Versuch. Jede andere Konstellation wäre aber genauso riskant und würde Stagnation bedeuten.
N ormalerweise gewinnen Parteien, die bei Wahlen siegen, an politischem Einfluss. Und umgekehrt. Das ist überall so – nur bei der Thüringer Sozialdemokratie verhält es sich anders.
Bei Wahlen erntet die SPD seit zehn Jahren mehr oder weniger deprimierende Resultate. Doch weil sie für Regierungsbildungen unentbehrlich ist, wächst der Einfluss der SPD in Erfurt von Niederlage zu Niederlage. Ob Christine Lieberknecht oder Bodo Ramelow regieren werden – beide würden mehr oder weniger sozialdemokratisch eingefärbte Politik machen.
Es werden zwei Gründe angeführt, warum die SPD von Rot-Rot-Grün besser die Finger lassen sollte: die Vergangenheit und die knappe Mehrheit. Ersteres ist kein überzeugender Grund. Denn die Linkspartei hat fast alles getan, um sich von DDR-Nostalgie zu verabschieden. Zudem hat das Beharren auf der DDR-Geschichte mit der Zeit etwas Verstocktes, Rückwärtsgewandtes, auch Rechthaberisches angenommen.
Gravierender ist der Einwand, dass Schwarz-Rot und Rot-Rot-Grün wegen äußerst knapper Mehrheit gefesselte, von Partialinteressen erpressbare Regierungen wären. Das kann sein – überprüfbar aber ist dies nur im Praxistest. Die Alternative, eine CDU-SPD-Grüne-Regierung, mag verlockend scheinen, weil sie eine stabile Mehrheiten verspricht. Aber das täuscht. Sie wäre geboren aus Angst und dem Versuch, Neuwahlen zu vermeiden.
Die Grünen, die bislang für eine Regierung ohne CDU trommeln, würden als opportunistische Lückenbüßer erscheinen. In Thüringen gibt es ein kompliziertes Wahlergebnis – keinen Staatsnotstand, der Notkoalitionen rechtfertigt. Und: Die Demokratieverdrossenheit der Wähler dürfte mit Schwarz-Rot-Grün noch wachsen.
Rot-Rot-Grün ist ein riskanter Versuch. Aber besser als alle Alternativen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker