Kommentar Proteste in Ungarn: Orbáns Achillesferse
An den Demonstrationen in Ungarn nehmen viele junge Menschen teil. Sie kennen Viktor Orbán als autoritären Machthaber, der sich die Taschen füllt.
![Ein Demonstrierender in Budapest, Ungarn, hält ein Plakat, auf dem Premierminister Viktor Orbáns Mund mit einer Weihnachtskugel gestopft ist Ein Demonstrierender in Budapest, Ungarn, hält ein Plakat, auf dem Premierminister Viktor Orbáns Mund mit einer Weihnachtskugel gestopft ist](https://taz.de/picture/3152895/14/protest-ungarn-orban.jpeg)
U ngarns Premier Viktor Orbán wirkt hilflos angesichts der Demonstrationen, die auch die Feiertage und den Jahreswechsel überdauern werden. „Hysterisches Gekreische“ nannte er die Sprechchöre in seinem allwöchentlichen Selbstdarstellungsinterview in Kossuth-Rádió.
Ausgestattet mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament hat er keine andere Erklärung für die Proteste als wieder einmal eine Verschwörung seines Erzfeindes George Soros. Das ist ebenso primitiv wie falsch. Dass Leute von NGOs, die von Orbáns Regierung drangsaliert werden und von der Central European University (CEU), die er aus dem Land geworfen hat, sich den Demos anschließen, darf nicht überraschen. Aber wer glaubt, dass ein Milliardär in New York in Ungarn spontane Massenproteste befehlen kann, der gehört entmündigt.
Vielmehr haben alle Oppositionskräfte im diskussionslos verordneten Arbeitszeitgesetz eine Achillesferse erkannt, die den selbstherrlich regierenden Premier wirklich schmerzen kann. Die Proteste werden von jungen Menschen getrieben, die Orbán nicht als den mutigen Liberalen im Gedächtnis haben, der einst auf dem Heldenplatz Brandreden gegen das kommunistische Regime hielt. Sie kennen ihn als autoritären Caudillo, der sich und seinen Spezis die Taschen füllt.
Anders als die sehr zurückhaltend auftretenden Bürgerlichen, die für Pressefreiheit oder die CEU auf die Straße gingen, hat diese Generation keine Scheu, sich mit Polizisten anzulegen und obszöne Slogans zu singen.
Die Oppositionsparteien, die ihre Wähler frustriert haben, weil sie im vergangenen April die Chance, Orbán durch taktische Bündnisse bei den Parlamentswahlen zu schwächen, nicht nutzten, sehen sich plötzlich im Aufwind. Im Parlament gehen ihre Stimmen unter, doch auf der Straße werden sie gehört. Nicht wenige versprechen sich von der Fortsetzung der Proteste das Ende des Systems Orbán. Dazu wird es kaum kommen. Aber die Selbstherrlichkeit der herrschenden Clique könnte einen Dämpfer abbekommen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme