Kommentar Netanjahu in Ungarn: Erbärmliche Gesinnungslosigkeit
Oft beschwört er den Kampf gegen den Antisemitismus in Europa. Nun verspielt der israelische Regierungschef in Ungarn seine Glaubwürdigkeit.
B enjamin Netanjahu ist sonst immer schnell dabei, wenn es gilt, Antisemiten an den Pranger zu stellen. Auf Ungarns beispiellose Schmutzkampagne gegen den jüdischen Philanthropen George Soros reagierte Israels Regierungschef hingegen halbherzig. Und das, obwohl ein nicht sehr vorteilhaftes Foto des 86-jährigen Holocaust-Überlebenden massenhaft an Häuserwänden in Budapest und auf dem Fußboden öffentlicher Verkehrsmittel klebt, so dass Fahrgäste sein Bild buchstäblich mit Füßen treten müssen.
Antisemitismus lehne man ab, so verlautete es windelweich aus Jerusalem, aber Kritik an Soros sei legitim. Soros bringt Netanjahu in ein Dilemma. Er ist zwar Jude und steht aktuell im Zentrum einer antisemitischen Kampagne, gleichzeitig aber gehört er zu den schärfsten Kritikern der israelischen Regierung. Bei manchen Juden ist ein bisschen Antisemitismus für Netanjahu offenbar gut aushaltbar.
Netanjahu braucht Verbündete in Europa und Viktor Orban ist ein Mann nach seinem Geschmack. Die beiden Rechtspopulisten sind sich einig, wenn es um die Marginalisierung von Kritikern, um Meinungs- und Pressefreiheit oder auch um den Umgang mit Menschenrechten geht. Ungarn sprang Israel außerdem zur Seite und protestierte gegen die Kennzeichnungspflicht von Produkten aus den Siedlungen im Westjordanland, als die EU darüber entschied.
Orban kommt umgekehrt der Besuch Netanjahus wie gerufen. Wenn der Chef des Jüdischen Staates kein Problem damit hat, ihm freundschaftlich die Hand zu reichen, dann soll keiner mehr kommen und ihm oder seiner Partei Antisemitismus vorwerfen. Netanjahu erteilt Orban einen Persilschein.
Persilschein für Orban
Dass die unsägliche Plakatkampagne ausgerechnet im Vorfeld des ersten Besuchs eines israelischen Staatschefs nach Budapest starten musste, bringt Netanjahu innenpolitisch allerdings in Erklärungsnöte. Auch die Lobeshymne Orbans auf den früheren ungarischen Diktator Miklos Horthy, der mit Hitler kollaborierte und den Abtransport hunderttausender ungarischer Juden ermöglichte, kam dem Israeli alles andere als gelegen.
Dass Netanjahu trotz allem nach Ungarn reist, ohne eine klare Distanzierung Orbans von der Plakatkampagne und von Horthy zu verlangen, zeugt von einer erbärmlichen Gesinnungslosigkeit. Netanjahu richtet seine Prinzipien danach aus, ob sie ihm gerade nützen. Seine Glaubwürdigkeit im Kampf gegen zunehmenden Antisemitismus in Europa hat er damit endgültig verspielt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen