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Kommentar MindestlohnSchluss mit dem Getrickse

Pascal Beucker
Kommentar von Pascal Beucker

Der aktuelle Mindestlohn kann zu leicht umgangen werden. Dass sich in einer Jamaika-Koalition daran etwas ändert, ist unwahrscheinlich.

In vielen Branchen wird der Mindestlohn nach wie vor umgangen – zum Beispiel in der Gastronomie Foto: dpa

W enn etwas von der in ihren letzten Zügen liegenden Großen Koalition in positiver Erinnerung bleiben wird, dann ist das sicherlich die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Es muss der SPD hoch angerechnet werden, dass es ihr gelungen ist, diesen „arbeitsmarktpolitischen Meilenstein“ (DGB) gegen alle Widerstände in der Union und trotz des lautstarken Lamentos der Arbeitgeberverbände sowie der ihnen ideologisch eng verbundenen Wirtschaftsforschungsinstitute durchzusetzen. Diese Anpassung an die europäische Normalität war überfällig.

Viele Menschen mit niedrigem Einkommen verdienen dank dem zum 1. Januar 2015 eingeführten Mindestlohn mehr Geld. Rund 4 Millionen Jobs werden laut Statistischem Bundesamt seitdem besser bezahlt. Insbesondere Beschäftigte im Osten, in Dienstleistungsberufen und Frauen profitieren davon. Die alarmistischen Behauptungen, der Mindestlohn werde als „Jobkiller“ wirken, haben sich hingegen als unwahr erwiesen. Ist also alles gut?

Nein, das ist es nicht. Denn zum einen ist der Erfindungsreichtum etlicher Arbeitgeber, um den Mindestlohn zu umgehen, nach wie vor beeindruckend groß. Gerade in schwer kontrollierbaren Branchen wie dem Taxigewerbe, dem Baugewerbe oder der Gastronomie werden immer wieder Löhne unterhalb der Mindestlohngrenze von 8,84 Euro pro Stunde gezahlt.

Dass die künftige Regierung in Berlin mit mehr Energie als die bisherige dagegen vorgehen wird, ist unwahrscheinlich. Ein Blick nach Schleswig-Holstein zeigt, dass das Gegenteil zu erwarten ist: Die dortige Jamaika-Koalition setzt sich per Bundesratsinitiative für eine Lockerung der Dokumentationspflichten ein. Was Union, FDP und Grüne als Bürokratieabbau ausgeben, ist jedoch de facto ein Einfallstor für Tricksereien.

Zum anderen ist der aktuelle Mindestlohn zu niedrig. Eingeführt wurde er mit der Begründung, dass (Vollzeit-)Arbeit „existenzsichernd“ sein müsse. Doch dem ist nicht so. Schließlich ist die derzeitige Höhe, darauf hat die Linkspartei immer wieder hingewiesen, nicht alterssicher. Denn dafür, das hat die Bundesregierung selbst errechnet, müsste er bei rund 12 Euro liegen.

Es sei „unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substanziellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein“, schreibt der allzu linker Ideen unverdächtige SPD-Vize Olaf Scholz in seinem aktuellen Strategiepapier zu den Perspektiven sozialdemokratischer Politik. Recht hat er. Nur schade, dass so etwas der SPD erst auf dem Weg in die Opposition einfällt.

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Pascal Beucker
Inlandsredakteur
Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft. Sein neues Buch "Pazifismus - ein Irrweg?" ist gerade im Kohlhammer Verlag erschienen.
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9 Kommentare

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  • 3G
    39167 (Profil gelöscht)

    Wie lange gibt es diese Forderungen schon? Schluss mit Lohndumping, Leiharbeit etc.etc.....

    Wie lange gibt es die aufgebrachten Kommentare schon?

    Ich habe die Hoffnung verloren, dass sich grundlegend etwas ändert.

    Es werden Gesetze gemacht, abseits dessen, was der Bevölkerung wichtig ist, überlebenswichtig.

    Kinderarmut, HartzIV, Rentenabsenkung. Das ist erweiterbar.

    Und??? Passiert irgendetwas in diesem Land? Nö, nicht wirklich.

    Mhhh! Großdemos helfen ja auch nicht, wie TTIP bewiesen hat.

    Was tun?

    Brav zur Tafel wandern, wenn es nicht reicht und ansonsten den Mundhalten?

    Fatal ist, dass genau die braune Grütze in dieses Vakuum vorgestoßen ist.

    Inhaltsleer und gefährlich. Genau dies macht es noch gefährlicher. Ich glaube, sogar der Plüschbär würde gewählt werden, wenn er ansprechende Plakate hätte.

    Soll das die Lösung sein?

    • @39167 (Profil gelöscht):

      Verehrte Userin, Sie sprechen völlig richtig die Schattenseiten unseres Demokratiemodells an, dem rechtzeitige und nachhaltige Mitbestimmung der Mehrheit fehlt.

      Siehe auch den Koll. Prof. R. Mausfeld, "Warum schweigen die Lämmer".

      Danke für Ihre Stimme hier in diesem Forum.

  • Für einen gesetzlichen Mindestlohn von 14,62 Euro-Std. brutto, in 2017/2018.

     

    ● Laut der früheren Bundesarbeitsministerin, Ursula von der Leyen, muss man über einen Zeitraum von 35 Arbeitsjahren (in Vollzeit) monatlich einen durchschnittlichen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 2500 Euro erarbeiten, um eine Altersrente auf dem Niveau der Sozialhilfe/Grundsicherung zu erhalten (eine mtl. Nettorente von etwa 740 Euro).

     

    ● Auf der Grundlage eines gesetzlichen Mindestlohns muss man etwa 55 Jahre in Vollzeit arbeiten, um eine vergleichbare und eigenständige Altersrente auf dem Niveau der Sozialhilfe/Grundsicherung zu erhalten.

     

    ● Ohne die sozial und lebenslang abgesicherten w/m Beamten/Angestellten und Stammbelegschaften von DAX-Konzernen, liegt bis zur Rentenzahlung aus der GRV die Beitragszeit für Frauen im Durchschnitt bei etwa 32 Jahren im Westen und für Frauen im Osten bei knapp unter 40 Jahren. Für Männer im Westen unter 40 Jahren und im Osten (noch) etwas über 40 Erwerbs- und Beitragsjahre.

     

    ● Insbesondere erwerbstätige Frauen im Westen und in der GRV erhalten im Durchschnitt aller Bundesländer keine eigenständige Altersrente oberhalb der Sozialhilfe. Für Frauen in Ostdeutschland liegt die durchschnittliche Altersrente aus der GRV deutlich oberhalb der Sozialhilfe, ebenso für Männer aus dem Westen und Osten der Bundesrepublik.

     

    Außergewöhnlich gering sind die durchschnittlichen GRV-Altersrenten für Frauen in Bayern und im Saarland. ○ Selbst die christlichen Kirchen, Wirtschaftsverbände und deren Parteien müssten eigentlich zugeben, dass sich ganz offensichtlich Millionen westdeutsche Frauen in einer freiwilligen und unfreiwilligen Rentenehe befinden. Ohne die soziale Absicherung durch ihre Ehemänner könnten Millionen Frauen auch als Witwen von ihrer eigenständigen GRV-Altersrente nicht existieren. Dabei im völligen Gegensatz zu Beamtinnen.

     

    ● Nehmen wir einen mtl. Bruttoarbeitslohn von 2500 Euro zum Maßstab, so liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 14,62 Euro-Std.!

    • @Reinhold Schramm:

      Und wer bezahlt diesen Lohn dann?

      • @FStein:

        Lieber User, Sie stören aber ganz schön den User Schramm bei seinen richtigen Überlegungen :-). Bezahlen, da es sich zumindest in den Fällen von Lohndumping, ich sehe diesen zumindest bei unter 15 Euro pro Stunde, um vorenthaltenen Lohn geht, die Betriebsinhaber.

        Selbstverständlich werden, Betriebsinsolvenzen einbezogen, der oder die Käufer bezahlen. Deshalb bin ich u.a. für eine sinnvolle Vermögens- sowie Erbschaftssteuer.

  • "Es sei „unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substanziellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein“."

     

    Wenn das jetzt sogar Scholz sagt, scheint unbegreiflich, wie das nicht einmal den Weg in das SPD-Bundestagswahlprogramm finden konnte. Diese Verlogenheit ist doch kaum zu überbieten.

    • @Soda:

      Seit 1914 ist die SPD eine Partei der Rüstungsindustrie und der Finanz- und Monopolbourgeoisie!

       

      So wie die SPD, so auch heute die rechtssozialdemokratischen Gewerkschaften. Sie sind billige und willige Sozialarbeiter*innen in den Unternehmen für die Kapitalisten. Und zugleich Verkaufs- und "Sozialpartner" für die Bourgeoisie, so zwischen der Putzfrau und Vermögensmilliardärin, zwischen Arbeit und Kapital, - stets im Kapitalinteresse!

  • Die "Jamikaner" sind sowieso unsozial!

    Denen geht es um ihre eigenen guten Jobs.

    Da ist nichts zu erwarten.

  • Beim Mindestlohn wurde schon bei der Einführung getrickst indem die erste Anpassung 2016 ausgesetzt wurde. Die besten Tricks kommen noch. Was kann man denn erwarten in einem Land wo z.B. die Gewerkschaften gesetzliche (und sowieso schlechte) Vorlage zu Leiharbeit arbeitgeberfreundlich (von 18 auf 48 Monate) interpretieren?