Kommentar Massenproteste in Tschechien: Babiš ist nur ein Symptom
250.000 Menschen demonstrieren in Prag gegen den tschechischen Ministerpräsidenten. Er symbolisiert, was im Postkommunismus falsch gelaufen ist.
E ines muss man Andrej Babiš lassen: Er hat eine Viertelmillion Menschen aus allen Ecken Tschechiens zu einem friedlichen Happening auf der Prager Letná-Ebene zusammengebracht. Das haben nicht einmal Mick Jagger und Keith Richards geschafft, die hier auf dem Sommerhügel gegenüber der Prager Altstadt ein bis heute legendäres Konzert gaben. Damals kamen 80.000 Zuschauer.
Die dreifache Menge war am Sonntag bei bestem Wetter auf die Letná geströmt und feierte dort einen bunten Anti-Babiš-Karneval. Ein spirituelles Erlebnis, schwärmten Teilnehmer später im Netz. Die Atmosphäre hatte etwas Besonderes, lobten andere: den Geist Václav Havels, den Hauch der Revolution, die Zukunftsvisionen einer engagierten Zivilgesellschaft.
Von all dem träumt die liberale und urbane Bildungselite Tschechiens seit der samtenen Revolution von 1989. Sollte es ausgerechnet Andrej Babiš 30 Jahre später schaffen, der Entwicklung eines mündigen Bürgertums Antrieb zu verleihen? Die aktuellen Proteste gleichen den Funken, die entstehen, wenn eine Reibung zu stark wird.
Andrej Babiš ist die Antimaterie zu Václav Havel. Er ist einer aus der alten, kommunistischen Nomenklatura. Ausgestattet mit skrupellosem Raubtierinstinkt, Herrschaftswissen, einem Netzwerk aus alten Seilschaften und bis heute dunklen Geldquellen im Schweizer Kanton Zug, ist er nach der Wende reich geworden. Und ist es mithilfe europäischer Subventionen auch geblieben.
Der am westlichsten gelegene Oligarch
Babiš ist weder Berlusconi noch Orbán. Er ist Babiš, der am westlichsten gelegene Oligarch. Er war einst Teil des Regimes, gegen das die Massen 1989 auf der Letná demonstriert haben. Dreißig Jahre später ist er immer noch da und sogar noch immer frei. Und nicht nur das, er ist demokratisch gewählt.
Was ist da in den 30 letzten Jahren falsch gelaufen, dass ein Andrej Babiš Ministerpräsident werden konnte? Er ist nur ein Symptom. Wofür? Für all das, was im Postkommunismus falsch gelaufen ist. Und dafür, wie manipulierbar viele in der tschechischen Gesellschaft immer noch sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“