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Kommentar Krawalle in LondonDie unregierbare Weltstadt

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Die britische Regierung reagiert hilflos auf die Gewalt in London, die mit Sozialprotest nichts zu tun hat. Die lokale Zivilgesellschaft reagiert erfindungsreicher.

L ondon ist eine Weltstadt, vielleicht die einzige Europas. Auf engstem Raum prallt die gesamte Vielfalt der Welt aufeinander: russische Milliardäre und afrikanische Haussklaven, islamistische Hetzer und englische Sozialhilfeempfänger, globalisierte Finanzmanager und ein chancenloses Prekariat. Niemand kann die Spannungen überblicken, die sich aus diesem chaotischen Mit- und Nebeneinander ergeben. London ist mit seiner Energie und globalen Ausstrahlung dem provinziellen Rest Großbritanniens längst entwachsen. Eigentlich ist diese Stadt unregierbar.

Kein Wunder, dass die britische Regierung ziemlich hilflos dasteht, wenn die Londoner Verhältnisse in Gewalt ausarten und ganze Straßenzüge brennen. Es liegt nicht nur an den Sommerferien, dass Premierminister David Cameron und andere vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrte britische Spitzenpolitiker jetzt als Getriebene dastehen. Die Politiker, die zu Hause geblieben waren, haben auch nicht entschlossener reagiert.

Es wäre auch gar nicht so einfach für die Regierung, zu anderen Reaktionen zu finden als zu den jetzt angekündigten harten polizeilichen Maßnahmen. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung ist die anfänglich oft zu hörende Kritik, wonach die Sparpolitik der Konservativen ein Grund für den Aufruhr sei, weitgehend verstummt.

Bild: taz
Dominic Johnson

ist Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und Afrika-Redakteur.

Mit Sozialprotest hat das, was sich auf Londons Straßen abspielt, nichts zu tun. Es gibt bei den Plünderern weder klare politische Ziele noch identifizierbare Bewegungen oder Führungspersönlichkeiten. Und es sind vor allem ihre Opfer, denen jetzt der soziale Absturz droht, darunter unzählige kleine Geschäftsleute am Existenzminimum, Säulen ihrer lokalen Gemeinschaften, die jetzt vor dem Ruin stehen, während ihre Kunden zu den besser gesicherten und daher heil gebliebenen Shopping-Malls und Supermärkten abwandern.

Deshalb macht die Reaktion dieser lokalen Zivilgesellschaft am meisten Hoffnung. Sie bewegt sich finanziell auf sehr dünnem Eis und ist jetzt einfach wütend darüber, wie leichtfertig und dumm die eigene Jugend ihr eigenes Umfeld kaputthaut. Die vielen selbstorganisierten Protest- und Aufräumaktionen auf lokaler Ebene zeigen, dass die gesellschaftlichen Kräfte erfindungsreicher sind als der Staat – das heißt im Prinzip auch erfindungsreicher als die Politik der Cameron-Regierung –, wenn es um den Umgang mit sozialen Spannungen geht.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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17 Kommentare

 / 
  • M
    Mirko

    "Auf engstem Raum prallt die gesamte Vielfalt der Welt aufeinander: russische Milliardäre und afrikanische Haussklaven, islamistische Hetzer und englische Sozialhilfeempfänger, globalisierte Finanzmanager und ein chancenloses Prekariat."

     

    Hört sich an wie Berlin.

  • TR
    the riot

    Sobald es Demonstrationen in einen dritte Welt land gibt und der dazugehörige Präsident die arme einschaltet, wie es in London überlegt wird. um die Proteste zu beenden oder die Polizei härte zeigt, sprechen Sie hier gleich von einem Diktator der schlecht für die Demokratie ist. Womöglich schickt die Nato ihr Killer auch gleich noch hin um den presidenten auszuschalten Sie Lybien. Sobalt dies aber in einem westlich Staat passiert wird von unorganisierten jugentlichen gesprochen. Wacht bitte auf unsere Regierungen in Westeuropa sind kein deut besser als ein gadafi finde es sehr bedauerlich das so etwas nicht erwähnt wird

  • B
    BerlinaWoman

    "Mit Sozialprotest haben die Londoner Krawalle nichts zu tun". Bei eurem Allah, taz. Plündern dann also die Reichen aus Langeweile die Geschäfte? Wie schaut es in England mit der sozialen Situation der Normalos aus? Die deutschen so freien Medien berichten über GB dazu...nichts. Wie hoch ist die Armut, wieviele arme Kinder gibt es, wieviele Rentner in GB müssen im Winter entscheiden: nehmen sie das wenige Geld zum Heizen oder zum Essen, für beides reicht es nicht usw. Ihr blendet uns mit dem schönen Schein. Und tut dies auch mit den deutschen Zuständen. Von der Situation der Zuwanderung bis hin zur Armut und Reichtumsverteilung im Lande. Prentzlauer Berg Feeling, das isses wohl, euer Alleinseligmachendes. Ist eure Redaktion echt so eng?

  • J
    Jana

    Das die Jugendlichen keinen klaren Anführer haben kann wohl kaum als Argument zählen das die Ausschreitungen keine politischen Gründe haben. Ich verurteile die Gewalt, aber ich akzeptiere trotzdem keine Argumente die den offensichtlichen Zeitgeist ignorieren, welcher eine organisation der Massen auch ohne einzelne Anführer möglich macht. Zu sehen war dies ja auch im arabischen Frühling. Also müssen andere Argumente her um diesen Jugendlichen ihre politsche Motivation komplett abzusprechen.

  • E
    eilbekermicha

    "Soziale Spannungen" sind es also, aber kein "Sozialprotest". Wo liegt der Unterschied?

    Wenn es kein sozialer Protest - z. B. aus Frust über Ungerechtigkeit - ist, was ist es dann? Wo liegt Ihrer Meinung nach die Ursache, Herr Johnson?

    'London ist einfach so' reicht nicht aus, finde ich.

  • E
    eilbekermicha

    "Soziale Spannungen" sind es also, Herr Johnson, aber kein "Sozialprotest". Wo liegt der Unterschied?

    Wenn es kein sozialer Protest - z. B. aus Frust über Ungerechtigkeit - ist, was ist es dann? Wo liegt Ihrer Meinung nach die Ursache?

  • A
    Andreas

    Der Kommentar mag in vielen Punkten richtig sein. Das diese Ausschreitungen kein sozialer Protest darstellt, mag in seiner Ausprägung und in seiner Gewalt gegenüber ebenfalls Benachteiligen richtig sein.

     

    Wer aber die Augen davor verschließt, dass die jahrzehnte lange Politik diverser britischer Regierungen dazu geführt haben, das es fast 20 % Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen gibt, das Großbritannien zu einem Armenhaus mutiert mit einem gigantischen Ausmaß an sozialer Kälte, dass das Gesundheitssystem implodiert, dass die Rentner dahinvegetieren und in unglaublicher Armut leben, macht es sich zu einfach mit seinen Begründungen. Anscheinend merkt es keiner, aber in Europa wie auch in Nordafrika, Arabien und dem nahen Osten herrscht Aufruhr. Der Sieg des Kapitalismus, der sukzessive Abbau sozialer Rechte, die Verelendung der Masse der Bevölkerung, der Verrat der europäischen Sozialdemokraten (Labour, spanischen Sozialisten, deutsche Sozialdemokraten ala Schroeder usw.) an ihrer Klientel, der vorauseilende Gehorsam eines Tony Blair, das Murdoch Kartell und Bestechungsskandal in GB und den USA führt doch unweigerlich in eine gesellschaftliche Stimmung der Ohnmacht und Anarchie. Wer Anarchie und Oligarchie vorlebt, wie diese politische Klasse, darf sich nicht wundern, wenn am unteren Rand der Gesellschaft sich daran ein gutes Beispiel genommen wird.

     

    Wer ernsthaft Moral proklamiert aber im Gegenzug sich unglaublich verstrickt im murdochschen Sumpf z.B. wie Cameron, wird nicht mehr als moralische Instanz wahrgenommen.

     

    Aber anscheinend können sich Banken hunderter Milliarden bedienen, die dann zu Lasten der Jugend und Benachteiligten gespart werden....

     

    Es ist einfach widerlich....

  • PP
    Peter Pan

    Ich empfinde die nahezu selbstverständliche Erwähnung von sogenannten "afrikanischen Haussklaven" als zutiefts rassistisch und bin doch arg verwundert, derlei völkische Verallgemeinerung in der Taz zu lesen. Noch erstaunter bin ich, dass diese Kritik von den GenossInnen nicht veröffentlich wird. Da könnte einem wirklich schlecht werden. Was soll so etwas?

  • J
    JMF

    Nur weil es keine politischen Forderungen gibt, hat das alles mit Sozialprotest nichts zu tun?

     

    Lieber Herr Johnson, die Realität sieht wohl eher so aus:

     

    »Nimm eine Gesellschaft, in der Geld der einzige Weg ist, um voranzukommen. Nimm eine Gesellschaft, in der das reichste Prozent der Bevölkerung 20 Prozent des Reichtums besitzt, und die ärmsten 50 Prozent nur sieben Prozent. Du nimmst der Jugend die Beihilfe weg, so daß sie nicht mehr aufs College kann. Du sagst ihnen, daß sie 30000 Pfund Schulden für einen Universitätsabschluß machen müssen, der ihnen nicht mal einen Job garantiert. Du kürzt lokale öffentliche Dienstleistungen und streichst die Jobs ihrer Eltern. Du kriminalisierst sie dafür, daß sie sich in Gruppen zusammentun und nennst es antisozial. Und wenn sie dann aus den Vierteln herauskommen, in die du sie eingesperrt hast, um sich auf Straßen, die ihnen von der Polizei verweigert werden, aus Läden, die ihnen den Eintritt verweigern, die Waren zu holen, die sie sich nicht leisten können, dann ist alles was du sagst: Das ist reine Kriminalität.«

     

    Fußballfanzine A Fine Lung aus Manchester

  • I
    iKa

    Ich bin gegen Gewalt und möchte sie mit keinem Wort entschuldigen.

    Allerdings verdeckt die Aussage, es handele sich bei den Londoner Ausschreitungen nicht um soziale Protest, den Ursprung dieser Gewalt: versperrte Wege zu sozialer Anerkennung und fehlende Chance auf irgendeinen Aufstieg in der Gesellschaft.

    Das sollte nicht einfach übersehen werden.

  • JK
    Juergen K.

    Dann wäre es richtiger,

     

    die lokalen erfindungsreichen Menschen

     

    würden die Regierungsgeschäfte übernehmen.

     

    Vielleicht denken die Parteien mal darüber nach.

    Ob sie die Menschen VERtreten

     

    oder ZERtreten.

  • S
    sinostud

    Hier ist sie also, die wahre "Big Society", und nicht die propagandistische Chimäre wie sie immer von der ConDem-Koalition heraufbeschworen wurde. Aber auch als Guardian-Leser fragt man sich so langsam, ob den randalierenden "Hoodies" nicht doch nur noch mit den Truppen Ihrer Majestät beizukommen ist... Schwierige sozio-ökonomische Verhältnisse und Versagen der Politik hin oder her, Sympathien erwecken diese Krawallbrüder nicht gerade.

  • L
    Leser

    "Mit Sozialprotest hat das, was sich auf Londons Straßen abspielt, nichts zu tun. Es gibt bei den Plünderern weder klare politische Ziele noch identifizierbare Bewegungen oder Führungspersönlichkeiten."

     

    Weshalb müssen Sozialproteste identifizierbaren Bewegungen oder gar Führungspersönlichkeiten folgen???

     

    Klar, organisiert ist das alles scheinbar nicht, aber kann es deswegen kein Protest sein? Vielleicht kommt da einfach angestautes hoch? Das kollektive Nachdenken in In- und Ausland kommt doch jetzt erst dadurch, so schrecklich es ist und scheint, in Gang.

     

    Gewalt ist immer destruktiv - egal von wem aus. Aber oft ist sie erklärbar.

     

    Beim Beziehungsstress gehen auch schon mal Türen oder Geschirr, was teuer erworben worden ist, kaputt und schädigt die gewalttätigen im besten Fall selbst. Auch Menschen schaffen es (leider) nicht immer rational zu handeln, sondern sind manchmal nur einfache emotionale Wesen.

  • C
    Curt

    Danke für diesen präzisen und kenntnisreichen Kommentar in all der Kakophonie, die jetzt zu diesem Thema anhebt.

  • S
    Stefan

    Geht schon in die richtige Richtung. Ich hoffe nur, dass diese Feststellungen nicht als Gewaltaufruf gewertet werden, als Brevik-Vorlage.

  • P
    pflasterstrand

    @Dominic Johnson

    Sie schreiben: "Mit Sozialprotest hat das, was sich auf Londons Straßen abspielt, nichts zu tun. Es gibt bei den Plünderern weder klare politische Ziele noch identifizierbare Bewegungen oder Führungspersönlichkeiten"

    Sie leben wie wir alle 2011 und müssten eigentlich gut wissen, dass Sozialproteste keine Führungspersönlichkeiten oder einen einheitlich durchdesignten Presseauftritt mehr benötigen, der den Journalisten ihr Programm in textbausteinkompatibler Form serviert. Sie gehen mit der Haltung an die Ereignisse ran: "Versteh ich nicht, also gibts das nicht." Selbstverständlich haben die Ausschreitungen in Großbritannien neben opportunistischen Mitläufern und Gelegenheitsplünderern eine sozialpolitische Ursache: Soziale Exklusion und die Aussichtslosigkeit von verheißenen Wohlstandsperspektiven

    http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/08/looting-fuelled-by-social-exclusion

  • A
    Alex (2)

    ähm... eine These ohne Beleg? Inwiefern ist die Zivilgesellschaft erfindungsreicher? Ein paar konkrete Informationen wären nett...