Kommentar Katastrophe im Mittelmeer: Die Pflicht, einzugreifen
Es gibt eine völkerrechtliche Verpflichtung zum Handeln im Falle von „großem Verlust an Menschenleben“. Worauf warten wir also?
E s reicht. Das tägliche Massensterben im Mittelmeer erreicht unvorstellbare Ausmaße. Maltas Premierminister Joseph Muscat spricht bereits von „Genozid“ und warnt: „Mit der Zeit wird Europa hart für seine Tatenlosigkeit verurteilt werden, wie es verurteilt wurde, als es vor Völkermord die Augen verschloss.“
Aus dem Unvermögen, der gezielten Tötung von über 800.000 Menschen in Ruanda 1994 ein Ende zu setzen, hat die internationale Staatengemeinschaft eine Lehre gezogen: die völkerrechtliche Doktrin der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect). Nach der Definition der dafür eingesetzten UN-Arbeitsgruppe enthält diese Verantwortung eine völkerrechtliche Verpflichtung zum Handeln im Falle von „großem Verlust an Menschenleben als Ergebnis entweder gezielten staatlichen Handelns oder staatlicher Vernachlässigung oder staatlicher Handlungsunfähigkeit, ob mit Völkermordintention oder nicht“.
Worauf warten wir also? Es wird viel diskutiert über Seenotrettung, über legale Einreisemöglichkeiten, über Verbesserungen in den Herkunftsländern. Das ist alles wichtig. Aber es wird keinen einzigen Flüchtling, der in Libyen sitzt, davor bewahren, auf einem seeuntauglichen Boot in den Tod geschickt zu werden.
Nötig ist jetzt eine sofortige, international koordinierte Evakuierungsaktion für die Insassen der libyschen Transitlager, in denen Flüchtlinge unter Kontrolle von Schmugglern interniert sind und auf den Befehl zur Abreise warten. Es geht um klare Gruppen mehrerer Tausend Menschen in höchster Lebensgefahr. Die Lager, in denen sie leben, sind bekannt, ihre Insassen reisefertig.
Militärisch ist es machbar. Europäische und US-amerikanische Truppen evakuieren routinemäßig Landsleute aus solchen Krisensituationen. Das Mittelmeer ist schon voller Kriegsschiffe. Notfalls muss man Milizen, die sich wegen drohenden Geschäftsverlusts in den Weg stellen könnten, entschädigen – Staaten, die ihre al-Qaida-Geiseln in Afrikas Sahelzone freikaufen, können auch für Bürger anderer Länder aufkommen.
Eine Utopie? Im Wege steht höchstens die Unklarheit darüber, was mit den Geretteten geschehen soll. Aber das ist ein Ausdruck von Menschenverachtung. Europa hat schließlich kein Problem damit, Überlebende aus dem Meer zu fischen, nachdem ihre Reisegefährten ertrunken sind. Also kann es die Menschen auch aufnehmen, bevor sie tot sind.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
ifo-Studie zu Kriminalitätsfaktoren
Migration allein macht niemanden kriminell
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft ade