Kommentar Hartz IV für Asylbewerber: Verweigerte Würde
Jahrelang wurde von allen Seiten ignoriert, dass Asylbewerbern ein Leben unter dem Existenzminimum zugemutet wird. Das muss sich sehr schnell ändern.
W as der Sozialstaat zu leisten hat, ist klar bestimmt: Er muss ein Leben in Würde ermöglichen. Die Frage, wie viel Geld es dazu genau braucht, ist – zumindest offiziell – entschieden: Hartz IV, also 374 Euro im Monat, die sogenannte Hilfe zum Lebensunterhalt für einen Erwachsenen. Dort und nirgendwo anders liegt das Minimum an Versorgung, das die Gesellschaft dem Einzelnen schuldet – bis auf Weiteres.
Es ist deshalb nicht nachzuvollziehen, dass sich seit 19 Jahren ein Gesetz halten kann, das eine ganze Bevölkerungsgruppe von diesem Existenzminimum einfach ausschließt, während man ihr gleichzeitig verbietet zu arbeiten.
Nach den Pogromen von Lichtenhagen und Hoyerswerda waren CDU, CSU, FDP und SPD vor dem Druck eingeknickt, den die Rechtsextremen aufgebaut hatten. Sie setzten den Kampf der „Republikaner“, der Nazis und des Bürgermobs gegen Flüchtlinge auf ihre eigene Agenda und zimmerten den sogenannten Asylkompromiss – ein unsägliches Gesetzeswerk, das nur zwei Zwecke hatte: Flüchtlinge fernzuhalten und jenen, die trotzdem kommen, das Leben so unangenehm wie möglich zu machen.
ist Redakteur bei taz1.
Auch das Sozialrecht wurde herangezogen, um in der aufgeheizten Stimmung die wachsende Fremdenfeindlichkeit zu bedienen. Ausbaden müssen das bis heute weit über 100.000 Flüchtlinge. Und während die sozialpolitische Debatte darüber tobte, ob Hartz IV nun „Armut per Gesetz“ ist, hat es die Öffentlichkeit fast zwei Jahrzehnte lang nicht interessiert, dass der Staat Zehntausende nichtdeutsche Kinder von 4,30 Euro am Tag leben lässt.
Wie gleichgültig Politik und Medien der ganzen Sache gegenüberstehen, sieht man auch daran, dass bis heute noch die D-Mark-Beträge im Text des Asylbewerberleistungesetzes stehen. Niemand, auch keine Grünen, die zwischendurch jahrelang regiert haben, haben sich daran so gestört, dass sie wenigstens eine Inflationsanpassung durchgesetzt hätten.
In zwei Tagen wird das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich entscheiden, dass dieser Zustand beendet werden muss. Zu befürchten ist, dass die Bundesregierung darauf genauso reagieren wird wie auf das Urteil zu den Hartz-IV-Sätzen: mit Unwillen und dem Verschleppen der Umsetzung. Das ist den Flüchtlingen nicht zuzumuten. Sie müssen sozialrechtlich gleichgestellt werden – sofort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern