Kommentar Große Koalition in Österreich: Wien sagt Regierungskrise ab

Die zerstrittene Koalition will sich mit einem Arbeitspakt retten. Darin hat sich die unternehmerfreundliche ÖVP gegen die SPÖ durchgesetzt.

Der österreichische Kanzler Christian Kern (l, SPÖ) und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) am 17.05.2016 in Wien, Österreich.

Beziehungskrise: Kanzler Christian Kern (SPÖ) und der ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (re.) Foto: dpa

Seit Tagen wird in Österreich über vorgezogene Neuwahlen gemunkelt, weil die Koalitionsparteien SPÖ und ÖVP nicht mehr miteinander können. Die Schnittmenge ihrer politischen Vorstellungen ist so gering, dass kaum ein Auftritt eines Kabinettsmitglieds ohne Seitenhiebe gegen den Koalitionspartner abläuft. Dementsprechend lähmend stellt sich das politische Geschäft dar. Es wird mehr blockiert als regiert. Kanzler und Vizekanzler gleichen einem Ehepaar, das sich nur wegen der gemeinsamen Kinder nicht trennen will.

Vor Neuwahlen haben beide Angst, weil seit mehr als einem Jahr die rechte FPÖ sämtliche Umfragen anführt. SPÖ und ÖVP hätten nach heutigem Stand keine gemeinsame Mehrheit mehr. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache könnte zum lachenden Dritten werden.

Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) hat jetzt die Initiative ergriffen und mit der impliziten Drohung von Neuwahlen den Koalitionspartner ÖVP an den Verhandlungstisch gezwungen. Mit einem Arbeitspakt will sich die Koalition nun bis zur Wahl im Herbst 2018 retten. Kern, der noch kein Jahr im Amt ist, hat gute persönliche Werte und hofft, die Partei mitziehen zu können und die FPÖ in einem „Kanzlerduell“ zu überholen. Die ÖVP grundelt bei 20 Prozent und hat keine realistische Aussicht auf den ersten Platz.

Dass Kern nun ein gemeinsames Programm vorschlug, das die Unterschriften aller Regierungsmitglieder tragen und bis zum zur Wahl umgesetzt werden soll, sahen viele Kommentatoren als ein Manöver. Die ÖVP solle so unter Druck gesetzt werden, damit sie die Koalition platzen lässt.

Das Ergebnis der Verhandlungen, die drei Tage und zwei halbe Nächte dauerten, spricht aber eine andere Sprache. Die ÖVP mit ihrem Sicherheitspaket und ihren unternehmerfreundlichen Wirtschaftsplänen hat sich durchgesetzt. Obwohl die sozialdemokratische Handschrift mit mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Überwachungsstaat kaum sichtbar ist, zeigen sich SPÖ-Leute zufrieden.

Ob das neue Programm aber tragfähig genug ist, die spalterischen Kräfte in beiden Parteien in Schach zu halten, ist zweifelhaft. Vor allem in der ÖVP sind Sprengmeister am Werk, die eine Koalition mit der FPÖ anstreben.

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*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.

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