Kommentar Große Koalition Österreich: Der Zug der Lemminge
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass SPÖ und ÖVP in fünf Jahren keine gemeinsame Mehrheit mehr zustande bringen werden.
S eit sieben Jahren regieren sie jetzt miteinander. Insgesamt wurde Österreich seit 1945 nur 24 Jahre nicht von einer „großen Koalition“ regiert. SPÖ und ÖVP kennen einander nur zu gut und deswegen beherrschen gegenseitiges Misstrauen und Abneigung das Verhältnis.
Das sind keine guten Voraussetzungen für große Reformen. Das ist auch dem Regierungsprogramm anzusehen, das in Grundzügen am Donnerstag präsentiert wurde. Kleinmut und Mittelmäßigkeit durchziehen jedes einzelne Kapitel.
Die bürgerliche ÖVP, die ideologisch noch im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist, blockiert seit Jahren erfolgreich eine Schulreform, die mit der frühen Trennung in Hauptschüler und Gymnasiasten aufräumen könnte. Laut übereinstimmender Meinung praktisch aller Bildungsexperten liegt dort eine Grundursache, warum bildungsferne Schichten über Generationen solche bleiben.
Die SPÖ, deren letzte solide Bastion die Rentnerinnen und Rentner sind, verhindert ihrerseits jeden Eingriff in ein längst nicht mehr finanzierbares Pensionssystem. Die Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters für Männer auf 60,1 Jahre – bis 2018 – wird jetzt als mutiger Schritt verkauft.
Selbst wenn die Parteichefs bereit wären, über den eigenen Schatten zu springen, werden sie von den Beharrungskräften in der eigenen Partei schnell wieder auf den Boden der realen Machtverhältnisse zurückgeholt. In der ÖVP sind das die mächtigen Bünde – Bauern, Wirtschaft, Arbeiter und Angestellte -, die Beamtengewerkschaft und die Landeshauptmänner.
In der SPÖ geht nichts ohne Zustimmung des Gewerkschaftsbunds und des Wiener Bürgermeisters. Es geht um Macht, Einfluss, Pflege der eigenen Klientel und Versorgungsposten. Bei den Wahlen im September haben sie gemeinsam gerade noch knapp über 50 Prozent der gültigen Stimmen geschafft. Aber die offensichtliche Unfähigkeit der einstigen Großparteien, sich neu zu erfinden, hat in den Umfragen bereits die rechte FPÖ auf den ersten Platz befördert.
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass SPÖ und ÖVP in fünf Jahren keine gemeinsame Mehrheit mehr zustande bringen werden. Der Politologe Anton Pelinka sieht „einen Zug der Lemminge“, der sehenden Auges auf den Abgrund zusteuert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“