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Kommentar Gewalt in der TürkeiEskalation statt Dialog

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Notwendig wäre eine Friedensbewegung, die eine politische Lösung fordert. Vereinzelt gibt es diese Stimmen noch.

Anschlag in Kayseri: Die Gewaltspirale wird weitergedreht Foto: dpa

D roht der Türkei ein Bürgerkrieg? Noch ist es nicht soweit, aber die Angst geht um, dass aus dem Krieg zwischen dem Staat und der kurdischen PKK-Guerilla eine Auseinandersetzung zwischen Türken und Kurden wird, die das Land zerreißen könnte. Keine Gesellschaft hält es auf Dauer aus, wenn Bombenanschläge im Monats- oder sogar Wochenrhythmus, Hunderte Opfer zur Folge haben, ohne das daraus politische Konsequenzen gezogen werden.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit seiner martialischen Rhetorik und flächendeckenden Repression gegen seine Kritiker zwar seine nationalistische Wählerbasis gestärkt, sein „Krieg gegen den Terror“ hat das Land dem Frieden und einer Lösung des Konflikts aber keinen Zentimeter nähergebracht. Gleichzeitig verschärft die PKK den Bombenkrieg im ganzen Land und schürt damit Wut und Hass auf die Kurden ganz allgemein.

Das erste Opfer dieser Strategie war – sicher nicht unbeabsichtigt – die legale linke HDP, die in ihren besten Zeiten die PKK in deren Augen zu marginalisieren drohte. Jetzt ist die HDP politisch tot und die PKK wieder der unumschränkte Player auf der kurdischen Seite. Will die PKK also den Bürgerkrieg statt einer politischen Lösung?

Gefragt wären jetzt besonnene Stimmen, gefragt wäre eine Friedensbewegung, die eine politische Lösung statt einer militärischen Eskalation fordert. Es gibt sie noch diese Stimmen, aber nur noch vereinzelt und ohne großen Einfluss. Mögliche Wortführer sitzen im Gefängnis, die Medien, die für eine politische Lösung der Kurdenfrage eingetreten sind, wurden längst geschlossen.

Die letzte Hoffnung sind nun besonnene Leute innerhalb der AKP und der Wirtschaft, die die Katastrophe kommen sehen, aber bislang geschwiegen haben. Sie müssen endlich die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vertreten, die Gewalt ablehnt und den Dialog der ständigen Eskalation vorzieht.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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4 Kommentare

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  • Das erstaunliche ist m.E., dass diese Entwicklung so glasklar absehbar war, wie sie nun zu kommen scheint - und trotzdem bewegen sich die Akteure weiter auf diesem Weg. Was glaubt man, dass die Kurden tun, wenn sie existenziell angegriffen werden? Ich sage nicht, dass Gewalt gut ist - ich frage, was uns der gesunde Menschenverstand sagt, was jemand tut, der existenziell angegriffen wird - wird er demonstrieren (und dann eingesperrt und gefoltert werden) - wird er parlamentarisch mitwirken (und dann eingesperrt und gefoltert werden) - wird er an die EU appellieren (und dann verraten zum Zwecke pragmatischer egoistischer Politik). Es musste und es muss so kommen, wie es kommt.

  • Jo...nicht auszuschliessen, dass da das eine oder andere ein Inside-Job ist. Oder Auftragsarbeit. Denk jetzt ernsthaft jemand, "das würden die doch nicht tun!"? ;-)

    Ist immer sehr praktisch, wenn man einen Feind hat, den man besiegen kann, um sich anschliessend feiern lassen zu können. Kein Feind, kein Ehr.

    Europa wurde ja als Gegner der Türkei auch strategisch erfolgreich aufgebaut - und darf nun für eine internationale Verschwörung herhalten, denn Krieg führen wir ja nun nachweisbar nicht und es wäre auch unglaubwürdig, Europa irgendwelche Anschläge in die Schuhe schieben zu wollen.

  • 8G
    81331 (Profil gelöscht)

    ...vielleicht will ja Erdogan diesen "Bürgerkrieg"?! Darüber sollte man/frau mal nachdenken.

    • @81331 (Profil gelöscht):

      Je nun. Genau das scheint Jürgen Gottschlich getan zu haben: Er hat nachgedacht. Und das Ergebnis lautet: Ja, der Bürgerkrieg ist gewollt oder doch wenigstens bewusst in Kauf genommen. Von Erdoğan, der "mit seiner martialischen Rhetorik und flächendeckenden Repression […] seine nationalistische Wählerbasis gestärkt [hat]", aber auch von der PKK, die "wieder der unumschränkte Player auf der kurdischen Seite" ist, seit die HDP, ihr legaler politischer Konkurrent auf der Linken, "politisch tot [ist]". Siegen macht schließlich süchtig.

       

      Es geht hier eindeutig um Macht, nicht um Vernunft. Und genau deswegen sieht Jürgen Gottschlich auch nur eine "letzte Hoffnung": Jene "besonnene[n] Leute innerhalb der AKP und der Wirtschaft, die die Katastrophe kommen sehen, aber bislang geschwiegen haben". Diese Leute "müssen endlich die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vertreten", seiner Ansicht nach.

       

      Ich frage mich nur: Wenn diese Mehrheit Gewalt tatsächlich "ablehnt und den Dialog der ständigen Eskalation vorzieht“, wieso hat sie Erdoğan dann überhaupt zum Präsidenten gemacht? Und wieso sollte eine Wirtschaft, deren oberstes Ziel auch bloß der Machterhalt ist, ausgerechnet dann den Frieden wollen, wenn er mehr kosten kann als er verspricht?

       

      Und überhaupt: Gibt es denn keine Weltgemeinschaft mehr, die etwas unternehmen könnte?

       

      Nein, gibt es nicht. Die Weltgemeinschaft nämlich besteht derzeit aus mächtigen Kriegstreibern, ohnmächtigen Friedensengeln und einer Medienlandschaft, die zwischen beiden steht und nichts lieber zu haben scheint als blutige Konflikte. Die, schließlich geben immer wieder Anlass zu irren Hoffnungen auf den rettenden Umsatzzuwachs - und zu wohlfeilen Forderungen. An Andere.