Kommentar Flüchtlingspolitik: Im Strudel der Überforderung
Es wird viel getan für Flüchtlinge, auf allen Ebenen. Was fehlt, ist eine Kanzlerin, die zu Willkommenskultur und Menschlichkeit steht.
E s ist nicht alles schlecht. Lokale Initiativen stellen Erstaunliches auf die Beine. Für Flüchtlinge. Mit Flüchtlingen. Dennoch reicht es hinten und vorne nicht. Die Behörden kommen nicht einmal mit der Registrierung der Neuankömmlinge hinterher. Flüchtlinge schlafen in Parks, warten auf Essen, eine Dusche, frische Klamotten. Eine humanitäre Katastrophe in einem der reichsten Länder der Welt.
Sind die Behörden unfähig? Zu doof? Zu faul? Im Gegenteil, man darf davon ausgehen, dass die meisten Mitarbeiter über die Grenzen des Üblichen hinaus ackern. Die aber sind eng gesetzt.
Steckt dahinter also Kalkül? Setzen die politisch Verantwortlichen auf eine Eskalation, die es ihnen erleichtert, die Migrationsgesetze zu verschärfen und die Grenzen dichtzumachen? Es mag sein, dass selbst im Bundestag einige politische Wirrköpfe solche Gedanken hegen. Entscheidend aber sind sie nicht. Noch nicht. Zum Glück.
Das Problem liegt woanders. Jede Einzelne, die sich derzeit hervorwagt und mehr tut als vorgeschrieben, sei es als Ehrenamtliche, als Landrätin in einer Kommune oder als Leiterin einer Notunterkunft, merkt schnell, dass man im Strudel der Überforderung unterzugehen droht. Deshalb fangen viele gar nicht erst an. Bewegen sich kein Stück, hoffen, dass sich irgendwer anderes des Problems annimmt. Weil ihnen der Rückhalt fehlt.
Der aber kann nur, der muss von ganz oben kommen. Es reicht nicht, wenn Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ein paar warme Worte von sich gibt. Hier ist Führungskraft gefragt. Die BürgermeisterInnen der Städte, die MinisterpräsidentInnen der Länder und allen voran die Kanzlerin müssen ihre uneingeschränkte Solidarität mit allen Engagierten auf allen Ebenen erklären. Ohne jeden Zweifel. Ohne jedes „ja, aber“. Müssen betonen, dass es nicht darum geht, ob die Flüchtlinge zu uns passen oder uns nützen. Sondern dass es unsere Pflicht ist, den Menschen zu helfen. Aus humanitären Gründen. Denn wir können das.
Ja, so eine Ruck-Rede wäre erst mal nichts als Symbolpolitik. Aber sie würde allen den Rücken stärken, die Flüchtlinge mit Suppe versorgen, sich Nazis wie in Heidenau in den Weg stellen, eine Gulaschkanone aus dem Kommunalhaushalt finanzieren oder am Kabinettstisch das nötige Hilfsprogramm durchsetzen wollen. Weil sie sich bei allem Widerstand darauf berufen, dass ihr Handeln dringend erwünscht ist.
Es ist Montag, der 24. August 2015. Frau Merkel, fangen Sie an!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen