Kommentar Flüchtlinge aus Nordafrika: Marshallplan für Nordafrika
Europa reagiert panisch auf die tausenden Flüchtlinge aus Tunesien. Statt sich zu öffnen, setzt es auf Abschreckung und vergisst den eigenen Anteil an den Verhältnissen.
D ie Zeitenwende in der arabischen Welt hat Europa kalt erwischt. Panisch reagiert es nun auf die rund 5.000 Bootsflüchtlinge, die in den letzten Tagen von Tunesien aus auf die Insel Lampedusa übergesetzt haben. Klar ist, dass die meisten dieser Menschen nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes nicht vor politischer Verfolgung geflohen sein dürften, sondern nach Arbeit und einem besseres Leben dürsten. So wie vor ihnen einst Millionen Europäer, die es im 19. Jahrhundert aus Deutschland, Polen oder Irland etwa in die USA zog.
Europa hat kein Konzept, wie es mit diesen Menschen umgehen soll. Es setzt weiter auf eine Politik der Abschreckung. Zu der gehört es, dass die italienische Regierung die Lage auf Lampedusa so weit wie möglich außer Kontrolle geraten lässt, um dramatische Szenen zu erzeugen. Und der EU fällt nicht viel mehr ein, als eine "Frontex"-Mission in Bewegung zu setzen, um ihre Südgrenze zu sichern.
Vergessen wird dabei, welchen Anteil Europa an den Verhältnissen in Ländern wie Tunesien hat. Einerseits drängt die EU etwa im Maghreb darauf, Märkte zu öffnen und Einfuhrzölle zu senken. Andererseits drückt sie dann etwa ihre subventionierten Lebensmittel billig auf diese Märkte, was die Strukturen der Landwirtschaft zerstört. Wenn Italiens Außenminister Franco Frattini nun von einem "Marshallplan" für Tunesien spricht, sollte er dabei auch an faire Handelsbedingungen denken.
DANIEL BAX ist Redakteur im Meinungsressort der taz.
Europa muss sich aber auch für Einwanderer öffnen. Schon heute werden Tausende von illegalen Flüchtlingen als billige und rechtlose Arbeitskräfte auf den Feldern Südeuropas ausgebeutet. Das lässt die Politik der EU so verlogen erscheinen. Dabei ist es ganz einfach: Wenn es einen legalen Weg der Einwanderung gäbe, würden nicht so viele versuchen, auf andere Weise nach Europa zu kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?