Kommentar FDP-Parteitag: Aufbruch geht anders
Christian Lindner nutzte den Bundesparteitag der Liberalen für Schwarz-Rot-Schelte. Die Inhalte der Liberalen kamen dagegen zu kurz.
S chon erstaunlich, wie leicht man als neu gewählter Bundesvorsitzender seine Parteifreunde scheinbar überzeugen kann. Eineinhalb Stunden Abgrenzungsrhetorik auf Kosten der einstigen politischen Mitbewerber reichen bei der FDP offenbar als gedankliches Gerüst für – mindestens – vier Jahre in der Opposition.
Die lang erwartete programmatische Rede von Christian Lindner beim außerordentlichen Bundesparteitag in Berlin war weiß Gott kein Aufbruchssignal. Was der 34-Jährige seinen Parteifreunden anzubieten hatte, war keineswegs die erhoffte liberale Vision für die Rückkehr aus dem parlamentarischen Abseits. Gefragt war ein Plan mit den nächsten Schritten.
Aber Christian Lindner hielt es für ausreichend, auf die künftige schwarz-rote Regierung einzudreschen, als habe es kein gemeinsames Gestern mit der Union gegeben. Scharf kritisierte er den Koalitionsvertrag. Der neue Parteichef wetterte wortreich über die künftige Renten- und Bildungspolitik sowie über die Vorratsdatenspeicherung.
Den schwarz-roten Koalitionsvertrag nannte er ein „Misstrauensvotum gegen den Bürger“, und der Bundeskanzlerin warf er Wortbruch in der Steuerpolitik vor. Als habe Angela Merkel nach dem verhängnisvollen 22. September irgendwelche Absprachen mit der FDP zu treffen gehabt.
Am Tiefpunkt der FDP-Geschichte hätte es Lindner gut angestanden, nicht nur zu erklären, wo die FDP sich im Recht sieht. Er hätte ein wichtiges Zeichen für die innere Erneuerung seiner Partei setzen können, wenn er auch erklärt hätte, wie und mit welchen Inhalten sich die Liberalen in die öffentliche Wahrnehmung zurückarbeiten wollten.
Die Mitglieder haben Ehrlichkeit verdient. Diese Chance hat Christian Lindner fürs Erste verstreichen lassen.
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