Kommentar Europas Jugend: Die Hoffnung stirbt zuerst
Die europäische Krisenpolitik raubt den Menschen mehr als ihren Wohlstand: Es ist die Idee der Zukunft selbst, die zum umkämpften Gut geworden ist.
G ibt es ein Rezept, um die Angela Merkels in Europa bei Wahlen zu besiegen? Ja. Es heißt Zukunft – oder wenigstes ein klein wenig davon. Denn alles Mögliche können wir denen, die uns regieren, verzeihen: Niedriglohn, ein aus den Fugen geratenes Gesundheitssystem, Urlaub nur noch auf dem Balkon, Entlassungen und Arbeitslosigkeit.
Aber dass sie uns um unsere Zukunft gebracht haben, das können wir nicht hinnehmen. Denn Zukunft ist ein Grundbedürfnis. Ohne sie sind wir alle Gefangene. Ohne Zukunft ist ein Greis, wer eigentlich noch alles vor sich hat.
Im Süden Europas ist die Zukunft schon zunichtegemacht worden; dort, wo es nicht nur kein Morgen, sondern auch kein Heute mehr gibt. Denn was ist das für eine Gegenwart, in der vier von zehn jungen Menschen ohne Arbeit sind (Italien: 39 Prozent Arbeitslosigkeit bei den 16- bis 25-jährigen); oder fünf Junge von zehn (Spanien) oder sechs von zehn (Griechenland)?
geboren 1947, ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt in Rom. Nach einem Physikstudium in Italien ging er nach Paris und wurde Schüler von Pierre Bourdieu. Er war Mitbegründer der italienischen Tageszeitung il manifesto, leitete das Feuilleton und arbeitete als USA-Korrespondent. Ende 2012 verließen er und andere prominente Autoren wie Rossana Rossanda die Zeitung. Auf Deutsch liegt vor: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft“.
Spanien goes Griechenland
Und jedes dieser Länder stellt keine beklagenswerte Ausnahme von der Regel dar, sondern sie bilden den Horizont, auf den sich, wie bei der Wegener’schen Plattentektonik, das jeweils nachfolgende zubewegt: Spanien verschiebt sich in Richtung Griechenland, Italien folgt Spanien. Und dabei bleibt es nicht – jedenfalls, wen man der Einschätzung des in Finanz- und Politikkreisen hochgeschätzten italienischen Expremiers Mario Monti glaubt: Ihm zufolge wird es noch schlechter als den ganz Jungen der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen ergehen, die – „das muss man so grob sagen“ – eine „verlorene Generation“ seien. Wir sprechen hier von einem Schicksal, das 130 Millionen Menschen droht.
Doch es geht nicht nur um den Süden. Der ganze Kontinent ist, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, ins Rutschen geraten. Wir hören ja oft genug den Vorwurf, dass wir Linken, negativ, wie wir nun mal seien, immer nur über die Millionen von Armen in unseren „Wohlstandgesellschaften“ reden wollten. Dabei ist es augenfällig, wie gering der Unterschied zwischen den blühenden Landschaften in Deutschland und den verwüsteten in Spanien, Griechenland und Italien ist.
Dieser Beitrag ist aus der taz.am wochenende vom 4./5. Mai 2013. Darin außerdem: Ein Gespräch mit dem heimlichen Star des Kirchentages Fulbert Steffensky. Und: Wie in einem Dorf in Brandenburg ein Schweinestall zur Opernbühne wird. Außerdem klingelt die taz mal wieder an fremden Türen - diesmal in Friedland. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo.
15,8 Prozent der Bevölkerung in Felix Germania leben unterhalb der Armutsgrenze. In Italien sind es 19,6 Prozent, in Spanien 21,8 und in Griechenland (2011) 21,4 Prozent. Darf man fragen, worin der viel gepriesene Aufschwung eigentlich besteht, wenn er die Anzahl der Armen nicht vermindern kann, ja sie sogar wachsen lässt? In 11 Jahren ist das deutsche BIP um mehr als 50 Prozent gestiegen, aber auch die die Armen sind mehr geworden (2011 waren es noch 11 Prozent).
„Not in education, employment or training“
Die Wahrnehmungen sind unterschiedlich, gänzlich entziehen kann sich keiner. Die krasseste, realistischste und erbarmungsloseste Definition des Phänomens der jungen Armen kommt wieder mal aus Großbritannien, wo man eine Leidenschaft für Akronyme hegt: Eine Million sind hier „NEET“ – also diejenigen zwischen 16 und 24 Jahren, die „Not in education, employment or training“ sich befinden: die also, anders gesagt, überhaupt nichts tun.
Gegen dieses Abdriften ist kein europäisches Land immun, auch wenn sich manche noch in Sicherheit wähnen. Die jungen Franzosen wissen, wie stürmisch die See ist, in der sie schwimmen müssen, und nennen sich selbst poetisch „génération flottante“, also eine, die wie ein Korken frei auf dem Wasser treibt; die hervorragend ausgebildet ist, aber keine Arbeit findet, die ihrer Qualifikation entspricht. Die New York Times zitierte dazu im Dezember eine 23-Jährige, die einen Master in Verwaltungswissenschaften hat und nun für fünf Dollar die Stunde Hunde Gassi führt.
Frankreich ist unterwegs Richtung Italien: In der Jugendarbeitslosigkeit von 25,7 Prozent (viertes Quartal 2012) ist die junge Akademikerin, die mit den Hunden geht, nicht enthalten. Auch in Deutschland ist die Quote bereinigt. Die Arbeitslosigkeit ist sehr niedrig (5,4 Prozent, 2,5 Millionen Menschen), aber die fünf Millionen Deutschen, die nur einen Minijob haben, tauchen nicht auf.
Die 450-Euro-Mini-Gehälter liegen weit unterhalb des Mindestlohns in den Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit (in Spanien etwa liegt er aktuell bei 645 Euro, also fast 50 Prozent höher). Zählte man die Minijobber mit ihrer Scheinrente dazu, so käme man auf 16,5 Prozent Unterbeschäftigung: Und da ist sie wieder, die verlorene Generation.
Zukunft ist das, worauf wir warten
Aber ist es nicht so, dass hier gar niemand um seine Zukunft betrogen wird, sondern vielmehr um seine Gegenwart? Ja und nein. Denn man muss sich darüber verständigen, was Zukunft bedeutet. Der Erste, der sich damit beschäftigt hat, war der heilige Augustinus (354–430 n. Chr.). In seinen „Bekenntnissen“ fragt er sich, was Zeit ist, und kommt zu der Antwort, dass es keine Vergangenheit gibt, sondern eine Gegenwart der Vergangenheit; keine Zukunft, sondern eine Gegenwart der Zukunft: Denn, sagt Augustinus, die Vergangenheit lebt lediglich in unserer Erinnerung und die Zukunft nur in unserer Erwartung. Die Zukunft ist das, worauf wir warten, was uns in Spannung versetzt. Und in diesem Sinn hat man uns die Zukunft gestohlen, weil man uns die Hoffnung gekappt hat.
Oder möchte jemand einen Minijob eine Perspektive nennen? Oder einem Hund mit dem Kotbeutel hinterherzulaufen?
Es ist nicht nur so, dass die Jungen mehr Lebensjahre vor sich haben als die Alten; es ist vielmehr so, dass Jugend mehr ist als ein biologischer Zustand – es ist auch ein sozialer. Wenn man jung ist, steht man vor einem Fächer der Möglichkeiten: Wirklich jeder Weg scheint offenzustehen. Nach Pierre Bourdieu besteht die soziale Alterung einer Gesellschaft ebendarin: in der fortgesetzten Beschränkung des Horizonts der Möglichkeiten, bis zu dem extremen Punkt, wo man nur noch der sein kann, der man schon gewesen bist. Und genau dann ist man alt.
Wenn man sagt, vor uns liege keine Zukunft mehr, dann ist der Fächer unserer Erwartungen und Hoffnungen zugeklappt; dann sind die Jungen, als soziale Gruppe betrachtet, schon alt.
Das gilt nicht nicht für Europa, sondern auch für die USA. In einer ökonomischen Perspektive steht der Fächer der Möglichkeiten für den Aufstieg, für die Leiter, die einen nach oben führt. Es geht um soziale Mobilität. Diese Mobilität hat sich in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten drastisch verringert, ja sie ist praktisch verschwunden – und mit ihr der Mythos vom Selfmademan. Der Blick über den Atlantik unterstreicht, dass der Hunger nach Zukunft keine frontier kennt, keine Grenzen, dass sich niemand dieser Sehnsucht entziehen kann, egal welchen Alters.
Yankee-Fassung von Augustinus
Woher kommt denn der rational nur schwer nachzuvollziehende Enthusiasmus, den Barack Obama 2008 auslöste, und zwar nicht nur bei den US-Wählern, nicht nur bei den Jungen, sondern auch im Rest der Welt, ja sogar bei der schlafmützigen Osloer Jury für den Friedensnobelpreis? Letztlich hat Obama nichts anderes getan, als die Dimension Zukunft wieder in den politischen Diskurs einzuführen, wenn auch nur für sehr kurze Zeit.
Sein „Yes, we can“ war die Yankee-Fassung und 21.-Jahrhundert-Version der Spannung und Erwartung, die sich bei Augustinus findet. Einen historischen Moment lang ist Barack Obama der spezifischen Aufgabenstellung für jeden Politiker der westlichen Demokratien gerecht geworden: den Weg in die Zukunft zu weisen und das Fortschrittsversprechen vital und glaubwürdig zu halten.
Dass er diesem Hunger nach Zukunft dann nicht sättigen konnte, dass er diejenigen, die am meisten auf ihn zählten, verraten hat, ist dabei nicht wichtig. Entscheidend ist, dass er diesen Hunger, wenn auch nur, um daraus sein eigenes Süppchen zu kochen, vor der ganzen Welt offenbart hat.
Es ist diese Lektion, die die europäischen politischen Eliten sehr genau beachten sollten. Denn wenn sie es nicht tun, werden auch sie zu denjenigen gehören, denen keine Zukunft beschieden ist.
Aus dem Italienischen: Ambros Waibel
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