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Kommentar Europäische SozialchartaDas Märchen vom sozialen Europa

Eric Bonse
Kommentar von Eric Bonse

Eine „soziale Säule“ in Europa ist längst überfällig. Doch die Vorschläge der EU-Kommission sind allenfalls ein Feigenblatt.

EU-Kommissionspräsident Juncker: auf der Suche nach dem sozialen Europa Foto: ap

D ie EU-Kommission hat ihre Pläne für eine „soziale Säule“ in Europa präsentiert. Das ist längst überfällig. Schon Jacques Delors hatte ein soziales Europa versprochen, als er in den 90er Jahren den Binnenmarkt einführte. Die Öffnung und Liberalisierung der nationalen Märkte müsse sozialpolitisch begleitet und abgefedert werden, so die Theorie.

In der Praxis hat die Europäische Union jedoch nicht geliefert. Sie ließ sich vom neoliberalen Zeitgeist mitreißen und hat die soziale Dimension vergessen. In der Eurokrise gerieten Arbeitnehmer und Gewerkschaften in die Defensive; das soziale Europa war nur noch ein ferner Traum. Die Vorschläge, die Jean-Claude Juncker und seine Kommission jetzt in Brüssel vorgelegt haben, werden daran nichts ändern.

Juncker betreibt Symbolpolitik, mit der er unübersehbar auf die Wahlen in Frankreich und Deutschland zielt. Vor allem der Vorschlag zur Elternzeit kommt Berlin gerade recht – Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles dürfte sich über die kostenlose Schützenhilfe aus Brüssel freuen.

Dabei geht dieser Vorschlag kaum über schon geltende Regeln in Deutschland hinaus. Noch dünner sind die anderen Vorschläge der Juncker-Kommission. Sie bilden keinen „europäischen Pfeiler sozialer Rechte“, sondern allenfalls ein Feigenblatt.

Die Symbolpolitik zielt auf die Wahlen in Frankreich und Deutschland

Das reicht aber nicht, um die bedrohliche soziale und politische Krise zu überwinden, in der Europa steckt. Sie ist eine Folge der neoliberalen Politik, die während der Eurokrise zu massivem Sozialabbau genutzt wurde. Diese Politik müsste die EU ändern, zum Beispiel durch einen europaweiten Mindestlohn.

Doch dafür reicht der politische Wille nicht. In Sonntagsreden wird zwar weiter das „soziale Europa“ beschworen – zuletzt auf dem EU-Jubiläumsgipfel in Rom Ende März. Doch nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland dürfte es damit schnell wieder vorbei sein.

Denn in die Zukunft weisen die Vorschläge aus Brüssel nicht. Im Gegenteil: Sie enthalten sogar eine Option zum Sozialabbau. Ob diese Option gezogen wird, sollen die Staats- und Regierungschefs erst nach den Wahlen diskutieren, vermutlich beim EU-Gipfel im Dezember. Dann dürfte die EU wieder ihr wahres, neoliberales Gesicht zeigen.

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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8 Kommentare

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  • Verehrte TAZ-Redaktion !

    Bei allem Respekt. Es ist ungeheuerlich, den Lesern und Leserinnen das Bild von Lux Leaks einzublenden. Ick kann janüscht soviel essen, wie ick ... möchte.

  • Das Märchen vom sozialen Europa!

     

    Gemäß EU-Klassenauftrag: “In der Praxis hat die Europäische Union jedoch nicht geliefert. Sie ließ sich vom neoliberalen Zeitgeist mitreißen {...}“ Und in Sonntagsreden wird weiterhin das „soziale Europa“ beschworen.

     

    In seiner Studie über die “Elitenstruktur und soziale Ungleichheit in Europa“, für die WSI-Mitteilungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, kommt Michael Hartmann, Professor für Soziologie, an der TU Darmstadt, im Jahr 2008 zu seinem Resümee und pessimistischen Ausblick:

     

    »Der fast überall zu beobachtende, vielfach dramatische Rückgang der Gewerkschaftsmitglieder, die massiv gesunkene Bereitschaft der breiten Bevölkerung zum politischen Engagement, die auf fast allen Ebenen wachsende Macht der großen Unternehmen, die zunehmenden Lobbyaktivitäten bei den nationalen Regierungen wie bei der EU in Brüssel sprechen nicht gerade für eine Verbesserung der Situation, soweit es die Lebenslage der breiten Bevölkerung oder ihre Einflussmöglichkeiten angeht. – Die Lage wird noch dadurch verschärft, dass die zentralen Instanzen der EU-Bürokratie nur in vergleichsweise geringem

    Maße dem demokratischen Einfluss seitens der Bevölkerungen der EU-Mitgliedsstaaten unterliegen. Die Europäische Kommission wie auch die hohen Beamten sind für die breite Bevölkerung noch weniger greifbar als die nationalen Regierungs- und Verwaltungsspitzen, beeinflussen aber mit ihren Entscheidungen das normale Leben in Europa immer stärker.«

     

    Vgl.: http://www.boeckler.de/wsimit_2008_03_hartmann.pdf

  • Man liest und hört ja grade allenthalben, dass Europa schwer bedroht sein soll, und zwar nicht nur von außen, sondern auch von innen. Wenn ich also nicht denken würde, dass die hier betriebene Symbolpolitik lediglich der (künstlich verstärkte) Ausdruck einer sehr kurzfristigen Irritationen auf Seiten der EU-Repräsentanten ist, hätte ich kein Problem mit den Trippelschritten des Herr Juncker. Gut Ding will schließlich Weile haben und wenn die Richtung stimmt, darf man sich manchmal Zeit nehmen, wenn man sie dringend braucht.

     

    Leider halte ich Spitzenpolitiker mehrheitlich für Menschen, die

     

    a) überzeugt sind, sie würden ihre Macht ausschließlich der eigenen Großartigkeit verdanken und nicht in erster Linie dem guten Willen kluger Wähler

     

    und

     

    b) an die positive Wirkung der Angst glauben, weil sie – von wem auch immer – autoritär geprägt wurden und also (Achtung: Euphemismus!) eher Neokonservative sind als Neoliberale .

     

    Deswegen fürchte ich, dass sich die „Basis“ nicht einlullen lassen darf von den angeblichen „Sozialreformern“. Weil: Wenn sie (die Basis) nämlich aufhört mit dem Murren und wieder anfängt mit dem Hoffen bzw. dem Vertrauen, werden die EU-“Spitzen“ wahrscheinlich sofort wieder alle Fünfer grade sein lassen. Statt sich weiter am Riemen zu reißen, werden sie umgehend wieder abkommen vom rechten aber doch eher beschwerlichen Weg hin zu mehr globaler Freiheit und Gerechtigkeit – und statt dessen genau so gierig auf die vollen Futternäpfe starren, wie bisher schon.

     

    2025 ist ja schließlich nicht mehr all zu lange hin. Das sind gerade mal acht Jahre, in denen junge Väter zehn Tage rund um die Geburt künftigen Kanonenfutters bzw. hoffnungsfroher Hartz-IV-Kandidaten zuhause bleiben dürfen.

    • @mowgli:

      Zustimmung !

  • 8G
    82236 (Profil gelöscht)

    Deshalb sollte es niemanden verwundern, dass viele Menschen mit diesem Europa Schluss machen wollen. Juncker mit der Sozialfrage zu betrauen, ist den Bock zum Gärtner machen. Seîne von ihm geschaffene Steueroase, ist mit Schuld daran, dass die Sozialkassen in vielen europäischen Ländern leer sind.

  • Genau - jetzt beginnt die Diskussion in die richtige Richtung: Der Mensch in Europa!

  • In jedem Mitgliedsland der EU gibt es zur Zeit ein großes Defizit in der sozialen Absicherung der Bevölkerung. Es spielt dabei auch eine untergeordnete Rolle, ob die Menschen in Arbeit stehen oder nicht. Rentner, Frührentner, Arbeitslose und junge Menschen sind in fast allen Mitgliedsstaaten schwer vom abrutschen unter die Armutsgrenze bedroht.

    Davon will aber weder die EU noch die 27 Staaten etwas Wissen. Für die EU Staaten ist einzig und allein wichtig, wie steht die Wirtschaft dar.

    Kein Mitglied der EU erhebt im eigenen Land ausreichend Steuern bei Unternehmen oder reichen Einzelpersonen. Selbst in Berichten, in denen ausdrücklich auf die politische Macht des Reichtums in der Politik hingewiesen wird, werden unter den Tisch fallen gelassen.

    Wie will die EU, oder auch einzelne Regierungen, es noch plausibel machen, dass es wichtig ist die Menge gegenüber des Einzelnen so stark zu Besteuern, dass sie nur die Hälfte ihres Einkommens zur Verfügung haben und die andere Hälfte durch Abgaben und Steuern aufgezehrt werden, besonders im Reichen Deutschland.

     

    Es wird unumgänglich für den Fortbestand der EU sich auf die Belange der Bevölkerung zu konzentrieren, ansonsten werden die Menschen durch wählen von Nationalistischen und Rechtspopulistischen Parteien antworten. In den Niederlanden, Frankreich, Österreich und auch in Deutschland mit der AFD, haben diese Populisten bereits erhebliche Wahlgewinne eingefahren.

    Es ist nicht einmal Nötig für diese Parteien ein wirklich Gutes Programm zu haben, den die Wähler wollen in erster Linie aufzeigen wie Unzufrieden sie mit den herrschenden Regierungen sind.

    Sind die Strömungen nicht ausreichend, um die Politik der gesamten EU zu wecken, wird es in Kürze zu Spät sein noch etwas zu unternehmen, denn Veränderungen sichtbar und fühlbar zu machen braucht Zeit, die der EU als solche aber nicht mehr bleibt.

     

    Sollte Le Pen Macron am 07. Mai schlagen, hat sich der Traum einer europäischen Nation ausgeträumt!!!

    • @urbuerger:

      Sorry, aber wer will den eine europäische Nation? Was für ein Alptraum. Mit der EU haben wir ein Staatenbund in wirtschaftlichen Angelegenheiten für ein gemeinsames wirtschaftliches Wachstum.

       

      Für die Sozialpolitik sind alleine die Mitgliedsstaaten selbst zuständig und verantwortlich.

       

      Gerade das von Ihnen dargestellte Missverständnis macht es den Politikern der Länder recht einfach, die Verantwortung für die jeweiligen sozialen innerstaatlichen Probleme auf die EU abschieben. Unter Hinweis auf die geschlossenen Verträge sollte der Präsident öffnetlich mitteilen, dass er hierfür garnicht zuständig und verantwortlich ist und mangels entsprechendem Auftrag auch nix an der Situation ändern kann.