Kommentar Deniz Yücels Freilassung: Einer ist frei
Deniz Yücel ist endlich frei, aber die Erpressung läuft weiter. Die Ausrufe deutscher Politiker vom positiven Signal klingen da nur hohl.
D eniz Yücel ist raus – diese Nachricht hat Wucht. Sie lässt sich erklären aus den zwölf Monaten, in denen sich nichts bewegte im Fall des Welt-Korrespondenten und früheren taz-Redakteurs. Immer wurde ja dieser bedrückende Zustand fortgeschrieben: die Einzelhaft von Silivri bei Istanbul. Aber an diesem Freitagnachmittag hat er das Gefängnis verlassen. Er ist raus. Er ist frei.
Ist er frei? Diese Frage bremst die Freude. Genau wie die Frage, wie frei wir eigentlich sind. Wie frei ist man, sich zu freuen, wenn man nicht weiß, ob man aufhören kann, sich zu sorgen. Wenn man nicht weiß, ob es Gegenleistungen gegeben hat, Panzer oder Geld oder beides? Über dem Tag, als Deniz Yücel aus dem Gefängnis trat, lag immer noch der Drohschatten des Recep Tayyip Erdoğan.
Die türkische Justiz hat ihre Version von Freiheit gleich mitgeliefert, das Kleingedruckte in seiner ganzen Ekelhaftigkeit. In der Anklageschrift fordert die Staatsanwaltschaft 18 Jahre Haft, sie nennt den Preis für Journalisten, die frei berichten möchten: So viel kostet die Pressefreiheit in diesem Land, mindestens, am Freitag verturteilte ein Gericht in Istanbul die beiden Journalisten Ahmet Altan und Mehmet Altan sowie die Journalistin Nazli Ilicak zu lebenslanger Haft.
Deniz Yücel durfte jetzt aus der Türkei ausreisen, aber dürfte er auch wieder zurück? Dürfte er wieder berichten aus Istanbul? Freilassung darf man nicht mit Freiheit verwechseln. Schon gar nicht im Staate Erdoğans. Die türkische Justiz ist eine Farce, in der Terrorvorwürfe dazu dienen, Kritiker des Präsidenten zu knebeln. 153 JournalistInnen sitzen im Gefängnis. Die drinnen sind Geiseln, damit die draußen vorsichtig sind. Auch wer für deutsche Medien aus der Türkei berichtet, dem hat diese Justiz den Fall Deniz Yücel in den Kopf gezwungen.
Der Dachgarten wartet
Ja, er ist raus, aber die Erpressung läuft weiter. Erdoğans deutsche Verhandlungspartner haben gesehen, dass der Präsident einer ist, der auch brutale Fouls einsetzt, auch gegen deutsche Staatsbürger. Wie hohl klingen da Ausrufe deutscher Politiker vom positiven Signal. Und wenn Außenminister Sigmar Gabriel stolz vermeldet, mit Erdoğan selbst habe er zweimal über Yücel gesprochen, dann schwingt da, mitten im SPD-Machtkampf, mindestens Mundgeruch mit.
Deniz ist frei
Wie frei die Presse ist – das zeigt der Fall Deniz Yücel –, entscheiden nicht die Autokraten allein. Man kann sich ihnen widersetzen. Durch großartige, ausdauernde Solidarität. Und sogar aus dem Gefängnis heraus, aus dem der Gefangene und seine Anwälte seine Gedanken, seine Haltung, sogar seinen Humor heraustrugen. Das waren Erfolge, das gilt es zu feiern.
Seinen Abschied von der taz feierte Deniz Yücel im Frühjahr 2015 auf dem Dach des Rudi-Dutschke-Hauses. In den vergangenen zwölf Monaten dachten wir oft daran.
Lieber Deniz, der Dachgarten wartet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Diskussion um US-Raketen
Entscheidung mit kleiner Reichweite