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Kommentar Defizitstreit in der EUDie Regeln taugen nichts

Eric Bonse
Kommentar von Eric Bonse

Die Bestimmungen der Währungsunion sind dumm, mehrdeutig und unverständlich. Die EU sollte sie nach der Europawahl ändern.

Italiens Vize-Premier Matteo Salvini ist sauer über die Ungleichbehandlung Italiens Foto: ap

U rteilt die EU-Kommission mit zweierlei Maß? Im Defizitstreit mit Italien sieht es so aus. Die Regierung in Rom soll wegen einer Neuverschuldung von rund zwei Prozent der Wirtschaftsleistung abgestraft werden. Demgegenüber dürfte Frankreich ungeschoren davon kommen – trotz eines nach oben korrigierten Defizits von 3,2 Prozent.

Wie kann das sein? Wird Frankreich bevorzugt, „weil es Frankreich ist“, wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal sagte? Genießt Präsident Emmanuel Macron einen Bonus, weil er proeuropäisch redet – und wird die Regierung in Rom härter rangenommen, da sie von Populisten geführt wird? Ja, dies ist ein Teil der Wahrheit. Es geht um Politik.

Aber es geht auch um die Regeln der Währungsunion. Sie sind nicht nur „dumm“, wie Junckers Amtsvorgänger Romano Prodi einmal sagte. Sie sind auch mehrdeutig und unverständlich.

Das Defizitverfahren gegen Italien wurde nämlich gar nicht mit der Neuverschuldung begründet – sondern mit den alten Schulden, die sich auf 130 Prozent der Wirtschaftsleistung türmen. Nach den EU-Regeln muss dieser Schuldenberg abgebaut werden und zwar dauerhaft. Deshalb könnte es sein, dass das Defizitverfahren gegen Italien weiterläuft, selbst wenn sich Rom und Brüssel doch noch auf ein niedrigeres Defizit einigen sollten. Die Regeln sind so tricky, dass sie fast beliebig interpretiert werden können.

An Italien und Frankreich ließe sich lernen, wie es nicht geht – und dass soziale Aspekte viel stärker berücksichtigt werden müssen als es bisher geschieht

Das gilt auch für Frankreich. Emmanuel Macron kommt zugute, dass er ein regelkonformes Budget vorgelegt hat. Das höhere Defizit kam erst später – als Reaktion auf die jüngsten Proteste der „Gelbwesten“. Und dieses Defizit soll auch eine Ausnahme bleiben. Deshalb kann die EU-Kommission nun ein Auge zudrücken und erst im Frühjahr prüfen, wie es weitergeht.

Das ganze Vorgehen hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Wenn die Regeln so widersprüchlich und dehnbar sind, dann taugen sie nichts. Doch zu einer Reform war die Europäische Union bisher nicht fähig. Ob sich das nach der Europawahl ändert? An Italien und Frankreich ließe sich immerhin lernen, wie es nicht geht – und dass soziale Aspekte viel stärker berücksichtigt werden müssen als es bisher geschieht.

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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8 Kommentare

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  • Das Ganze würde noch stärker, wenn wir kurz diskutierten, dass im Rahmen der "macroeconomic imbalances procedure" auch extreme Aussenhandelsïberschüsse, was als >= 6% definiert wurde, strafbar sind. Diese Grenze reisst Deutschland seit 2011 jedes Jahr, letztlich mit 8%. Bestraft wurde das bislang noch nicht.

    • @BigRed:

      @MARTIN74



      Wenn Sie etwas Französisch können, dann schauen Sie sich doch einmal dieses Gespräch (mit einem heterodoxen französischen Ökonomen) an:



      youtu.be/fQZDo-_zU7g

    • @BigRed:

      @MARTIN74



      Damals haben die herrschenden u. (für den Maastrichtvertrag) ausschlaggebenden neoliberalen Ökonomen noch mit dem Rogoff-Theorem gewunken (das sich später dann als Tabellenfehler erwies), dass nämlich ab einem gewissen Verschuldungsrad das Wirtschaftswachstum automatisch zurückgehen würde.

      Zudem: Welchen Sinn macht es, die Staatsverschuldung (also die ausgegebenen Bonds) mit dem BIP zu vergleichen, wenn das BIP eine Zahl ist, die sich auf 1 Jahr bezieht, während die durchschnittliche Laufzeit von Schuldscheinen bei 7,5 Jahren liegt?

      Und schliesslich: Die italienischen Schulden werden zu ca. 70% von den Italienern selbst gehalten - der Italiener spart, traditionell, in Backssteinen und Bonds (er ist halt "inflationsgeschult" ... ;) ). D.h. im Falle einer Staatspleite würde in erster Linie die Italiener selbst verlieren.

    • @BigRed:

      @bigred Ich denke die Maastricht Kriterien sagen, dass ein Land nicht länger als 2 Jahre hintereinander einen Aussenhandelsüberschuss von mher als 3% haben darf (=Verleetzung der Stabilitätskriterien).

      Darauf wurde schon vor langer Zeit in Italien ("Il sole 24 ore") aufmerksam gemacht (und es wurde auch von allen italienischen Regierungen immer wieder mal ins Spiel gebracht). Die Reaktionen darauf (aus Deutschland!) waren aber meistens prompt: Immer wenn so etwas lanciert wurde, kam aus "informierten Kreisen" (=Schäuble = Finanzministerium) ein dunkles Raunen über den "kranken Mann Italien", quasi um schon mal mit dem spread zu drohen. Und irgendwelche "sozial"demokratischen Minister bequemten sich in Interviews zu Äusserungen wie: "Wir lassen uns unseren Erfolg doch nicht kaputt reden!"

      Ganz grundsätzlich: Deutschland und Italien in der EU - das ist ein trauriges Kapitel, und die Deutschen haben da sehr viel Porzellan zerschlagen.

  • Frage an Eric Bonse; "Was ist damit gemeint: "... dass soziale Aspekte viel stärker berücksichtigt werden müssen...". Hinsichtlich Praxi gewordener Art der Gegenfianzierung allein durch staatliche Schuldenaufnahme statt Wahrnehmung des bestehenden Ausnahmezustandes in Frankreich seit 2015, wie im erklärten Krieg, vermögensnahe Schichten in patriotische Pflicht zu nehmen, zur Zeichnung von zinslos rückzahlbaren Staatsanleihen zu vergattern? 1914- 1918 waren das vor 100 Jahren sog. angeblich rückzahlbare Kriegsanleihe, egal auf welcher Seite der Front kriegsführender Länder.

    Emmanuel Macron hat mit seiner En March Sammelbewegung an etablierten Parteien, Gewerkschaften, Verbänden vorbei, in den sozial medial beackerten Wald hineingerufen, haben die Gelbwesten haben ihn mit regionaölem Eigensinn im ländlichem Raum erhört?, wenn ja, was tun?

    Macron könnte, wie in Island geschehen, ein außerordentliches Gremien, einen Runden Tisch, berufen, in den sagen wir einmal 99 Vertreter*nnen per Zufallsgenerator aus der Bevölkerung gewählt werden, Handlungskonzepte für anstehendes Problemlösungen auf Konsensbasis zu erarbeiten. i Island ist das gelungen, warum da nicht auch in Frankreich

    Unzureichend, ja kontraproduktiv, erscheint mir da die bisherige von interesseierter Seite viel gelobte sog. Blaupause für Umverteilungskämpfe neuer Provenienz ist seit 2003, die deutsche Agenda2010/Hartz4 Gesetze Arbeitsmarktreform unter Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Art. 3 Grundgesetz auf zusammengeschnurrter Basis Betroffener, nämlich ausschließlich Arbeitnehmer, Alleinerziehende, Kinder, Rentner gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, Solidarität zu übernehmen zu zeigen, Beamte, MdBs, Begüterte, staatliche, private Arbeitgeber, Unternehmen bleiben sakrosankt verschont - In Zeiten nationaler Not, erklärter Kriege wie 1914-1918 wären gerade vermögensnahe Schichten, Beamte . Unternehmen in patriotischer Pflicht zur Kriegsanleihen Zeichnung



    verdonnert worden.

  • Was ist daran nicht zu verstehen? Das Hauptkriterium ist der Verschuldungsgrad. Den haben die damaligen Politker auf maximal 60% festgelegt. Das ist und war eine politisch gezogene Grenze, keine durch die Volkswirtschaft exakt definierte Grenze - das wusste man aber auch von Anfang an. Trotzdem ist die Grenze wichtig, weil Volkswirtschaften mit hohen Verschuldungsgraden (mit der Ausnahme USA) in puncto wirtschaftlicher Entwicklung, Arbeitslosigkeit, etc. immer schlechter werden.



    Die Ausnahme USA liegt einfach daran, dass das (noch immer) die Weltreservewährung ist - Trump tut zwar alles, um das zu ändern, aber bis der EURO oder der Renmimbi das eines Tages mal ablösen wird, vergehen noch Jahrzehnte.



    Das zweite Kriterium ist die Nettoneuverschuldung. Die wurde ins Spiel gebracht, damit eine einzelne Regierung nicht zu schnell den Schuldenstand auf 60% oder höher bringen kann. In dem Punkt waren die beteiligten Politiker sehr ehrlich zu sich und den Wählern: Ohne eine solche Grenze würde jede Regierungspartei möglichst schnell möglichst viel Geld für die eigene Klientel ausgeben.



    Jetzt kann man sicherlich darüber diskutieren, ob 3% der ideale Wert sind oder ob 1, 2 oder 4% besser wären, aber eigentlich verstößt jede Erhöhung des Schuldenstandes außerhalb einer absoluten Krisensituation dem Gedanken von antizyklischen Investitionen durch den Staat, weil "deficit spending", wie Keynes das z.B. im Fall der Weltwirtschaftskrise zurecht verlangt hat, nur geht, wenn der jeweilige Staat nicht schon so veschuldet ist, dass er das Problem und nicht die Lösung ist. Siehe Japan (dort hat es nicht funktioniert) und Deutschland (dort hat die Abwrackprämie funktioniert, auch wenn ich mir nachhaltigere Investitionen gewünscht hätte als ausgerechnet Autos).

    • @Martin74:

      Japan hat einen Verschuldungsgrad von mehr als 200% und hat ausser mit Deflation mit keinerlei Problemen zu kämpfen.

    • @Martin74:

      Sehr geehrter User, Ihre Argumentation ist ein Zirkelschluss. Zwar nicht in erster Linie aus wiss. Sicht, aber immerhin bereits auf den zweiten Blick unter Einbeziehung der Wahrnehmung.



      Ihre schöne Schulbuchlogik greift nur dann, wenn sie das Vermögen unberücksichtigt lässt (Schulden dort sind Einnahmen an anderer stelle) bzw. der Staat auch seine Einnahmen forcieren würde.



      Das beginnt bereits bei der Steuergesetzgebung, die eben nicht die Mehrheit der Bevölkerung begünstigt.



      Es wird keine Vermögenssteuer und keine nachhaltig wirkende Erbschaftssteuer erhoben.

      Die Unternehmen hingegen verschulden sich nicht mehr ausreichend. Sie sind im Mittel derzeit selbst Sparer. Die Löhne stagnieren im Wesentlichen. Die Nachfrage ist seit etwa 30 Jahren nachhaltig gestört. Schon seit den 70ern sinkt die Lohnquote.