Kommentar Antisemitismusvorwürfe: Kurios, naiv, hilflos
Die Bank für Sozialwirtschaft will prüfen, ob die NGO „Jüdische Stimme“ antisemitisch ist. Deutsche darüber entscheiden zu lassen ist gefährlich.
J e autoritärer Regierungen agieren, desto mehr müssen sie auf Abschottung gegen Kritik setzen. Diese Mechanik ist in Ungarn, Polen und Russland zu beobachten. In illiberalen Demokratien stehen stets NGOs, Intellektuelle und KünstlerInnen, die sich der Regierungskontrolle entziehen, unter Generalverdacht. In diese Richtung bewegt sich seit Längerem, in letzter Zeit rasant die israelische Regierung. Medien und Künstler werden in Israel an die Kandare genommen. Das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz degradiert arabische Israelis offiziell zu Bürgern zweiter Klasse.
Jizchak Herzog, Oppositionsführer und früher Minister unter Netanjahu, hat wohl recht mit der Diagnose, dass Israel an „Nationalismus erkrankt“ ist. Neuerdings versucht Netanjahu sogar Deutschland auf Kurs zu bringen. Die Bundesregierung solle gefälligst NGOs, die die Besatzung kritisieren, nicht unterstützen. Auch die exzellente Jerusalem-Ausstellung des Jüdischen Museums in Berlin geriet ins Visier, weil sie nicht nur die jüdische, sondern auch die arabische Sicht zeigt.
Dass die Bank für Sozialwirtschaft nun auf Druck rechter Israelis und Juden wissenschaftlich prüfen lassen will, ob die zionismuskritische Organisation „Jüdische Stimme“ offiziell antisemitisch ist oder nicht, verrät wenig Empfindsamkeit für deutsche Geschichte.
Deutsche befinden zu lassen, ob Juden als antisemitisch gelten, ist mehr als eine kuriose, zwischen Naivität und Hilflosigkeit schillernde Idee. Sie ist gefährlich, weil sie, wie die Verfasser des Protestaufrufs zu Recht bemerken, Netanjahus Spiel bedient, jede scharfe Kritik an der Besatzung als antisemitisch zu denunzieren.
Auch das jährliche Antisemitismus-Ranking des Simon-Wiesenthal-Centers ist der Versuch, alle Zweifel an der israelischen Regierung moralisch mit dem wahllosen Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs zu diskreditieren.
Nein, Kritik an Netanjahu ist kein Verrat an der Freundschaft mit Israel, im Gegenteil. Kritik ist der Sauerstoff der Demokratie. Nur ängstliche Regierungen fürchten sie so sehr, dass sie sich dagegen immunisieren müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml