Kommentar Anschlag im Regionalzug: So einfach ist es nicht
Schnell war die Analyse da: Hinter der Tat steckt der IS. Doch was sind die genauen Motive des Angreifers? Danach muss gefragt werden.
Selbstauskünften von Gewalttätern wird selten blind geglaubt. Wer in einem Einkaufszentrum um sich schießt und in einem Abschiedsbrief erklärt, er habe die Welt retten wollen, löst kein Vertrauen in seine Zurechnungsfähigkeit aus. Anders ist das nur, wenn jemand sich um den Eindruck bemüht, zu einem islamistischen Terrornetzwerk zu gehören. Das wird von vielen sofort für bare Münze genommen.
Es ist erfreulich, dass der bayerische Innenminister Joachim Herrmann nach dem Amoklauf eines afghanischen Jugendlichen bei Würzburg vor voreiligen Schlüssen warnte. Andere taten das nicht, sondern meldeten sich nur Stunden nach der Tat mit fertigen Analysen: Der islamistische Terror sei endgültig in Deutschland angekommen, von radikalisierten Einzelnen gehe eine neue, große Gefahr aus.
Vieles spricht dafür, dass dies auf den Attentäter aus dem Regionalzug zutrifft. Ein im Internet aufgetauchtes Bekennervideo deutet auf eine Verbindung des Jugendlichen zum Terrornetzwerk „Islamischer Staat“ hin. Alles klar also? Nein. So einfach ist es nicht.
Ein Problem besteht darin, dass ein Amokläufer derzeit kaum etwas Besseres tun kann, als sich selbst als Islamisten zu bezeichnen, will er größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Für jemanden, der sich im Leben hilflos gefühlt hat, muss es verlockend sein, wenigstens im Tod mächtig und bedeutend zu erscheinen. Hier treffen sich die Interessen von Einzeltätern mit denen des organisierten Terrorismus. Denn auch für den IS ist es erfreulich, wenn der Eindruck entsteht, seine Kommandostrukturen reichten bis in den letzten Winkel der Erde. Das muss aber nicht stimmen.
Orlando, Nizza, Würzburg: Keinem der Einzeltäter hat seine jeweilige Umgebung einen religiös motivierten Anschlag zugetraut. Das kann ein Hinweis auf Naivität sein – mag aber auch darauf hindeuten, dass die Selbstzeugnisse vor allem so viel Schrecken verbreiten sollten wie irgend möglich.
Die Frage nach den genauen Motiven der Attentäter hat nichts damit zu tun, ihre Taten zu rechtfertigen. Sondern mit dem Schutz einer Gesellschaft, die vor Waffen wie Lastwagen und Äxten nicht geschützt werden kann. Nur wer die Gedankengänge von Gewalttätern zu verstehen lernt, kann sie wirksam bekämpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken