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Kommentar ÄgyptenDie Muslimbrüder unter Beobachtung

Kommentar von Beate Seel

Der Sieg der Islamisten bietet auch Chancen für die liberalen Wahlverlierer. Das neue politische System Ägyptens wird erst noch ausgehandelt.

"Der Islam ist die Lösung" – Slogan der Muslimbrüder an einer Hauswand in Kafr el-Moseilha, nördlich von Kairo. Bild: reuters

M it Ende der ersten freien Parlamentswahlen in Ägypten steht fest: Die Islamisten sind die klaren Sieger. Was das aber politisch bedeuten wird, ist noch vollkommen offen. Sicher ist im Moment nur eines: Die politische Situation in dem Land am Nil wird auch 2012 turbulent bleiben, weil das künftige politische System noch offen ist und erst ausgehandelt werden muss.

Welchen langen Weg Ägypten in nur einem Jahr zurückgelegt hat, zeigt sich schon daran, dass nun ein Mitglied der Muslimbrüder Sprecher des Parlaments werden wird – jener Gruppierung also, die unter Husni Mubarak verboten war und verfolgt wurde.

Die Muslimbrüder müssen sich nun an dem messen lassen, was sie dem Wahlvolk versprochen haben: eine gemäßigte islamische Politik, die weder Freiheiten der Ägypter einschränkt noch Touristen verprellt, sondern sich für demokratische Verhältnisse einsetzt.

Die Autorin

BEATE SEEL ist Nahost-Redakteurin im taz-Auslandsressort.

Sie stehen jetzt verstärkt unter Beobachtung – seitens der liberalen und revolutionären Parteien, der besorgten Kulturszene und jener Frauen, die eine Einschränkung ihrer Rechte befürchten. Letztlich geht es hier um den alten Konflikt zwischen Säkularismus und Religion. Den liberalen Wahlverlierern kann hier eine Wächterfunktion zukommen. Das ist ihre Chance, sich zu profilieren.

Neue Machtverteilung

Erst nach der jetzt anstehenden Verfassungsdebatte wird sich zeigen, wie die Machtverteilung zwischen Parlament, Regierung und dem Präsidenten, der Ende Juni gewählt werden soll, ausfällt – und damit auch, welche Rolle das Militär im neuen Ägypten spielen wird.

Für die Aktivisten auf dem Tahrirplatz ist gerade die Herrschaft der Armee, deren zunehmend brutale Einsätze gegen Demonstranten seit Oktober 80 Tote gefordert haben, der Beleg dafür, dass die Revolution weitergehen muss, bis sich der Militärrat aus der Politik zurückgezogen hat. Sie werden also weiterkämpfen.

Hinzu kommen die zahlreichen Streiks in ganz Ägypten mit Forderungen nach mehr Jobs und einem besseren Bildungssystem.

Die neuen ägyptischen Abgeordneten sind nicht zu beneiden. Es ist gut möglich, dass die noch zu bestimmende neue Regierung eine Amtsperiode nicht überlebt. Vor einem Jahr haben die Menschen auf dem Tahrirplatz ihre Angst vor den Machthabern verloren und erfahren, was sie mit Demonstrationen erreichen können.

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8 Kommentare

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  • S
    SimYerushalaim

    An alle, die denken, dass Ägypten genauso wird wie Iran oder Saudi - Arabien:

     

    Saudi - Arabien und Iran waren NIE Tourismusländer. In Ägypten ist jedoch der Tourismus die Hauptstütze der Wirtschaft. Auch wenn man auf jeden Fall objektiv die Lage bewerten sollte, ist im Moment abzusehen, dass sich eine neue Ägyptische Regierung keine Segregation und "Apartheid" (übrigens ein hier gerne falsch verwendeter Ausdruck) leisten kann.

     

    Wie in vorherigen TAZ - Artikeln zu lesen, ist das Land abhängig vom Tourismus. Da werden sich die Muslimbrüder der Realität stellen müssen. Und, es tut mir leid, meine Lieben Moslemhasser, aber die sind nicht so blöd, wie ihr sie gerne Hinstellt.

     

    Die haben viele Leute, die an Eliteunis studiert haben und nun zurück im Land sind und genau wie Europäische Spitzenmanager die Wirtschaft bewerten können. Nein, in Ägypten ist der Westen längst angekommen. Daher wird das Land auch nie wie Iran und Saudi - Arabien werden.

     

    Aber macht nur weiter, anscheinend hatten die Intellektüllen dieser Gesellschaft recht als sie sagen: "Das Volk braucht immer eine religiöse Gruppe zum Sündenbock." Wie man sieht: Erst die Juden, dann die Moslems.

     

    Wie lange dauert es noch, bis es heißt: "Deutsche, kauft nicht bei Moslems" die unterstützden doch eh nur den Terrorismus und die Unterdrückung in ihren Heimatländern.

     

    Schande auf die sog. Linke, dass sie selbst nach 2 Weltkriegen nichts gelernt haben.

  • S
    Schattenfels

    Schade, dass mein Beitrag zum Verhältnis von Linken und Islamismus (mal wieder) zensiert wurde. Schön zu sehen, dass die meisten Kommentatoren aber wesentlich kritischer und realistischer mit den Fakten umgehen, als es sich die taz wohl wünscht. Die Zensur auf diesen Seiten übersteigt die der meisten anderen Onlinemedien mittlerweile bei weitem, zumal nie Gründe oder Hinweise auf Löschungen gegeben werden. Die von den "Genossen" der taz geforderte Pressefreiheit scheint etwas gaz anderes zu sein, als die praktizierte Meinungsfreiheit in diesem Forum.

  • M
    Marti

    "Die Islamisten sind die klaren Sieger. Was das aber politisch bedeuten wird, ist noch vollkommen offen", schreibt Frau Seel.

     

    Meines Erachtens ist schon heute ganz klar absehbar, wohin sich Ägypten bewegen wird: hin zu einer immer stärkeren Dominaz des orthodoxen Islams und der Bestimmungen der klassischen Scharia.

     

    Das bedeutet unter anderem eine Verschlechterung der rechlichen Stellung von Frauen und Nichtmuslimen, d.h. der Kopten, und eine immer strengere Geschlechter-Apartheid.

     

    Krassere Scharia-Bestimmung werden nach dem tadarruj-Prinzip stufenweise eingefürt.

     

    Am Ende des Prozesses steht dann eine durchislamisierte Gesellschaft, die man sich ungefähr so vorstellen muss, wie das, was heute in Saudi-Arabien oder im Iran praktiziert wird, oder wie in Afghanistan unter den Taliban.

  • T
    Teermaschine

    @ chris

    Ja, ja, alles fließt...und bei manchem auch die verbliebene Restmenge Verstand...nämlich dahin!

    Offensichtlich ist die Epoche der Aufklärung an Kleingeistern wie Ihnen spurlos vorübergegangen. Es war gerade diese Zeitenwende, die die gesellschaftliche Stagnation auflöste. Wie soll die Hinwendung zur Religion, zumal zu einer "unaufgeklärten", die Probleme der Gegenwart lösen? - Mir scheint ihr Blick auf die "Errungenschaften" der muslimischen Gesellschaften während der 1400 Jahre ihrer Entwicklung recht verzerrt. Aber vielleicht lassen Sie uns ja teilhaben an ihrem Wissen.

  • A
    antiantianti

    @Chris

     

    Was soll denn dieser relativierender Kommentar? Können sie irgendeinen Beitrag zur derzeitigen Situation beitragen? Was bringt es denn die Fehler in der eigenen Geschichte hervorzukramen? Findet man so Lösungen oder Ansätze?

     

    Und wenn ihr Geschichtswissen noch dem der Grundschule entwachsen wäre, dann wüßten sie vielleicht warum in Afghanistan der "HINDUkush" ist und dort eine noch höhere Opferzahl zu finden ist.

  • C
    Chris

    Schon erstaunlich wie stark die Stereotype ausgeprägt sind. Wo fanden denn die beiden Weltkriege mit 70 Millionen Opfern statt? Wo gab es denn jahrhundertelang Hexenverbrennungen? Wo wurden KZs und Gaskammern gebaut?

     

    Antwort: nicht bei den bösen und rückständigen Moslems, sondern im christlichen Europa

     

    Alles fließt, vielleicht ist die arabische Welt in 100 Jahren der europäischen wieder überlegen. Vielleicht führt die zukünftige Supermacht China in 50 Jahren Drohneneinsätze in den USA durch. Wenn uns die Geschichte eines lehrt dann, dass sich alles immer wieder verändert.

  • T
    tommy

    Reines Wunschdenken...

  • PP
    Peter Paul

    Als ob ägyptische Oppositionelle irgend einen Einfluss haben werden. Es ist naiv zu denken, Muslimbrüder und Salafisten gewähren demokratische Freiheiten...wohl eher die Scharia.

     

    Zitat:

    "Wir sind Zeitzeugen einer Renaissance. Wir sind Zeitzeugen des Freiheitswillens einiger Menschen in islamisch geprägten Ländern und hoffen insgeheim auf einen Flächenbrand, der totalitäre Despotien hinwegwischt. Wir denken, die Zeit sei reif für die Demokratie und verdrängen dabei Jahrhunderte alte Fakten und Normen![...]Auch die Muslimbrüder gehen mit der Zeit, sind gut vernetzt, nutzen moderne Mittel, übernehmen karitative Aufgaben und erhöhen dadurch ihren Einfluss auf die wachsende Kaste der Armen und Verlierer ihrer eigenen Gesellschaft, die nicht gerade der Minderheit angehören. Es ist richtig, radikalislamische Gruppen nehmen kaum aktiv demonstrierend teil an der bunten Revolution! Zumindest nicht dort, wo sich Oppositionelle versammeln."

     

    Quelle vom Febr. 2011: http://www.clubderdenker.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=259:bunte-revolutionen&catid=41:welt&Itemid=58