Kommentar 25 Jahre Postkommunismus: Chinas verordnete Amnesie
In Polen trat 1989 das KP-Regime ab, in China wurden Proteste niedergeschlagen. Bis heute lebt Chinas KP mit einer Lüge, die sie fürchten muss.
US-Präsident Barack Obama hat die Ereignisse in Polen vor 25 Jahren als Beginn einer neuen Ära in ganz Europa bezeichnet. „Es war der Anfang vom Ende des Kommunismus“, sagte er zum Jahrestag der ersten teilweise freien Wahlen in dem Land. Damals verlor Polens KP haushoch – und trat ab. Einige Tausend Kilometer östlich reagierten Chinas Kommunisten am 4. Juni vollkommen anders: Mit massivem Militäreinsatz schlugen sie die wochenlangen Proteste am Tiananmenplatz blutig nieder.
Chinas KP regiert bis heute. Mit Polizei, Spitzeln und Zensur verhindert sie jedes öffentliche Gedenken an damals; so setzt sie ihre Strategie einer verordneten Amnesie konsequent fort. Seit jener Zeit lebt Chinas KP mit einer Lüge, vor der sie sich selbst fürchtet. Deshalb reagiert sie so nervös auf alles, was an den Tiananmen erinnert.
Dabei hat die KP sogar Gründe, ihren eigenen Lügen zu glauben: Haben nicht viele im Westen erwartet, dass sich der 1989 demokratisierende frühere Ostblock erfolgreicher entwickeln würde als das rückständige, weiter kommunistisch regierte China? Mancher prophezeite schon ein „Ende der Geschichte“ und sah den westlichen Liberalismus als einzig verbleibendes Modell.
China ging einen anderen Weg. Das KP-Regime studierte genau, was in Polen zum Umbruch geführt hatte: die Entstehung der Solidarnosc, einer KP-unabhängigen Gewerkschaft, der starke Einfluss der gut organisierten katholischen Kirche, der Zorn der Bürger wegen der maroden Wirtschaft und Mangel an Reisefreiheit.
Pekings KP-Strategen zogen ihre Schlüsse: Sie boten dem Volk wenige Jahre nach dem Massaker ein neues Modell, das mehr wirtschaftliche Freiheit bei fortgesetzter politischer Entmündigung vorsah. Es entstand eine turbokapitalistische Entwicklungsdiktatur mit Wohlstandswachstum und gewissen privaten Freiheiten – eine Alternative zum real existierenden Sozialismus osteuropäischer Prägung, die das „chinesische Modell“ für Autokraten attraktiv macht.
So autoritär wie selbstbewusst Chinas KP heute auftritt, stabil ist ihre Herrschaft letztlich nicht. Bleibt der Wirtschaftsboom aus, gibt es massive Störungen von außen oder einen internen Machtkampf, wird nicht wie in vielen anderen Staaten nur der Wunsch nach einem Regierungswechsel aufkommen, sondern die Systemfrage. Chinas Politiker bleiben deshalb Getriebene. Genau so haben sie sich am Jahrestag verhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt