Kolumne Wir retten die Welt: Heute blau und morgen blau
Unsere Ressourcen sind begrenzt, dachte ich. Dann ging ich eine Blaubeere pflücken. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine.
E s braucht nur eine gute halbe Stunde, dann ist der große weiße Eimer voll. Selbst wenn wir unseren Beifang von unzähligen Blättern, unreifen Preiselbeeren und unglücklichen Krabbeltieren abziehen, bleiben bestimmt fünf Liter Blaubeeren. Mit den eigens dafür konstruierten Kämmen haben meine Tochter und ich am Ende eines langen Wandertages reiche Ernte eingefahren. Die Abendsonne wärmt, der Rücken tut weh, die Knie knacken, aber das Gras ist immer wieder blauer auf der anderen Seite: „Man will gar nicht mehr aufhören, auch wenn der Eimer schon voll ist“, sagt meine Tochter und stürzt sich auf den nächsten Busch am Weg.
Als wir unsere Beute stolz zum Auto schleppen, fragt sie: „Wer hat diese ganzen Büsche eigentlich gepflanzt?“ Niemand, sage ich. Die wachsen hier einfach so. Und ich blicke über das wellige Land, das sich mit Blaubeerbüschen und dunklen Kieferwäldern bis zum Horizont erstreckt. Fantastillarden von reifen Blaubeeren. Und ich ertappe mich bei einem frevelhaften Gedanken: von wegen Knappheit der natürlichen Ressourcen!
Gerade diese kleine Kolumne wird ja nicht müde, über die gefährliche Übernutzung der Natur zu lamentieren. Gerade war „Earth Overshoot Day“, an dem wir gefräßigen Menschen die nachwachsenden Rohstoffe wie Holz, Fisch oder Süßwasser schon fürs ganze Jahr verbraucht haben. Alles richtig, alles furchtbar, aber alles irreal, wenn wir hinter Lygna an der Landstraße 180 stehen und uns die Blaubeeren zurufen: „Wir sind zu viele! Uns kriegt ihr nicht!“ Selbst wenn alle Norweger und Schweden den Sommer in den Wäldern verbrächten, um die Zutaten für alle ihre Blaubeerkuchen, -marmelade, -säfte, -suppen, -müslis und -desserts zu sammeln: Es gäbe immer noch mehr als genug davon.
Für uns Städter und Bauern eine absurde Vorstellung. In unserer Vorstellung sind – völlig zu Recht – Naturgüter begrenzt, und wir ernten nur, was wir auch säen. Die Natur kümmert sich aber nicht darum. Sie schwelgt im Überfluss. Und der macht großzügig: Selbst Dahergewanderte wie wir dürfen laut skandinavischen „Jedermannsrecht“ nach Herzenslust sammeln und campen.
Ich fühle ich mich wie die ersten Siedler in Nordamerika
Als ich über die endlosen Blaubeerweiten des norwegischen Opplands blicke, fühle ich mich wie die ersten europäischen Siedler in Nordamerika. Auch denen stand der Mund offen, wenn vor ihnen Zehntausende von Bisons die Prärie bevölkerten oder wenn die Dorsche vor Neufundland so zahlreich waren, dass man sie aus dem Wasser schaufeln konnte. Nennt mich Leutnant Blueberry!
Verständlich, dass sich bei solchem Überfluss der Eindruck breitmachte: Die Natur ist unerschöpflich. Hier können wir uns mit vollen Händen bedienen. Die Bisonherden, die Dorschschwärme, die schier unendlichen Wälder in Europa und Nordamerika und vieles mehr mussten wegen dieses Glaubens dran glauben. Heute kämpfen wir immer noch gegen diese Idee vom Schlaraffenland Natur. Verständlich ist das Evangelium vom Garten Eden schon, wenn man die Umwelt als Füllhorn erlebt, die anscheinend immer anschreiben lässt, egal ob es um Bauholz, Fisch, Kohle oder Platz für den Müll geht.
Am nächsten Tag bringt mich das Hadeland Folkemuseum auf den Boden der Tatsachen zurück. Es zeigt neben seiner erschöpfenden Sammlung norwegischer Pfluggeräte eine Fotoausstellung zum „Anthropozän“, also der Idee, dass der Mensch die Welt so stark verändert, dass er wie eine geologische Kraft wirkt und ein eigenes Erdzeitalter eingeläutet hat. Die Realität der Statistik hat mich eingefangen. Widerstand leisten nur noch ein paar Milliarden Blaubeeren hinter Lygna.
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