Kolumne Wir retten die Welt: Hass in Zeiten der Masern
„Von Experten lassen wir uns gar nichts sagen.“ Diese Haltung vieler Impfgegner kam ursprünglich von den Ökos. Jetzt beflügelt sie Verschwörungstheorien.
N ichts ist in diesen Tagen so ansteckend wie die Wut auf die Impfgegner. Unser Freund J. mit einem kleinen Kind schließt genervt die Augen und zischt: „Diese Vollidioten!“, wenn er an die Debatten in der Kita denkt. Immerhin geht in und um Berlin die Angst vor einer Masernepidemie um, ein kleines Kind ist bereits gestorben, und die Bundesregierung denkt darüber nach, ob man die Menschen zum Impfen zwingen kann.
Ein anderer Bekannter, der ein langes Physikstudium hinter sich hat, sagt: „Wenn beim Hausfest die Familie aus dem zweiten Stock mit ihren Verschwörungstheorien zum Impfen anfängt, verdrücke ich mich schnell zum Grill. Sonst passiert ein Unglück.“
So schimpfen wir alle mit Recht und Selbstgerechtigkeit auf die Eltern, die mit ihrem „Du, die Impfung nutzt nur der Pharmaindustrie“ ihre eigenen Kinder, deren ungeschützte Altersgenossen und eine erfolgreiche Gesundheitsvorsorge gefährden. Aber wir sehen nicht, dass die Einstellung der Impfioten inzwischen weit verbreitet ist: „Von Experten lasse ich mir gar nichts sagen!“ Und dass die grünen Aufklärer – und wir Journalisten – dabei zumindest Beihilfe geleistet haben.
Denn wenn die Umweltbewegung in Deutschland und weltweit etwas erreicht hat, dann das: Der Ratschlag von Fachleuten wird nicht einfach so hingenommen, wenn er nicht in den Kram passt. Mit dem Argument „Geht nicht, gibt’s nicht!“ schmetterten schließlich jahrzehntelang die Hohepriester des Sachzwangs alle Forderungen nach Industrie ohne Gift, Strom ohne Atom oder Fleisch ohne Doping ab.
Vertrauen auf Dr. Google
Und die Wissenschaft hat sich oft genug kaufen lassen oder sich in Sackgassen verrannt: vom Freispruch für gefährliche Chemikalien bis zu Universitäten voller Ökonomen, die auch nach Internetblase und Finanzcrash von der Richtigkeit ihrer falschen Theorien überzeugt bleiben.
Die Folge: Misstrauen gegen eine Wissenschaft, die weniger Wissen als Fakten schafft; Do-it-yourself in Forschung und Praxis, die Suche nach alternativen Wegen. Und seit es das Internet gibt, googelt sich sowieso jeder zurecht, welche Fakten er glaubt.
Auf den Trümmern der Experten-Diktatur blühen nun viele hässliche Pflanzen. Weil immer weniger Menschen Wissenschaft verstehen oder ihr vertrauen, können die „Klimawandelleugner“ den gequirltesten Blödsinn („Die Erde kühlt sich ab!“) als Erkenntnis vortragen. Weil keine Sau die Eurorettung kapiert, kann die AfD Gold als sichere Anlage empfehlen. Weil sie die Grundlagen der Statistik ignorieren, können Fremdenfeinde behaupten, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Noch mehr Aufklärung
Und weil die Politik zwischen Ukraine und Endlagerkommission immer komplexer wird, gedeihen die Verschwörungstheorien. Bei Schmerzen am Hintern fragen Sie nicht Ihren Arzt oder Apotheker, sondern surfen auf der Webseite www.Arschkrebs.de. Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.
Was hilft gegen zu viel Aufklärung? Noch mehr Aufklärung! Wissenschaft und Politik noch offener betreiben. Auch mal deutlich sagen, von wem wer bezahlt wird und was wir alles nicht wissen. Und sich an den alten Grundsatz halten: „Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“
Bisher habe ich den Klimaleugnern entgegengehalten: „Wenn Ihre Tochter hohes Fieber hat und 97 von 100 Ärzten raten zu einem bestimmten Medikament – welchem Rat würden Sie folgen?“ Denke ich an Impfgegner, muss ich mir wohl ein neues Argument einfallen lassen.
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