Kolumne Vollbart: Schluss mit Berliner Schnauze!
Was lernt man in Berlin für‘s Leben? Unser Autor zieht Bilanz – und dann von dannen.
![Hund auf Skateboard Hund auf Skateboard](https://taz.de/picture/794273/14/berlin_hund_dpa.jpg)
Schluss mit Berlin. Schluss mit Neukölln. Schluss mit Vollbart. Schluss mit Hipstertum. Schluss mit dem bösen Ausländer. Schluss mit den guten Deutschen. Schluss mit Queerness. Schluss mit allem.
Dabei hat mir diese Stadt zu viel gegeben. Und ich habe unglaublich viele Dinge hier gelernt:
Wer angeschrien wird, zum Beispiel im Bus, muss immer direkt zurückschreien. Überhaupt immer schreien oder genervt stöhnen. Immer. Hass kann produktiv sein.
Ein Vollbart ohne Katzenpullover macht einen zum Dschihadisten. Ein Vollbart mit Katzenpullover meint Hipster. Ein Vollbart, schwarze Kleidung und grimmige Miene bedeutet Gefahr – deswegen Tasche festhalten.
Eins der beliebtesten Spiele in Berlin, egal ob in der U-Bahn oder in einer vollen Bar, heißt: Renn-auf-die-freien-Plätze-und haue-dabei-Leute-um. Immer überall Erster sein. Gestresst überall hinlaufen, als ob zwei Minuten einen umbringen würde. Niemals stehen bleiben.
Sätze sagen wie: „Das kenn ich schon, da war ich bei der Eröffnung eingeladen.“ „Nee, da war es früher echt gut, aber jetzt gehen da alle hin.“
Die Minderheitenunterdrückungsolympiade ist nirgendwo so ausgeprägt wie hier – Feminist_innen gegen Migrant_innen, Schwule gegen Muslime, Lesben gegen Trans*Menschen.
Das Thema Berghain funktio_niert immer und schafft auch international Anerkennung. Für Extra-Coolness immer darauf verweisen, dass „wir“ als gute Berliner_innen Sonntagmittag ins Berghain gehen und nicht wie die Touristen Freitagnacht. Das Programm auswendig lernen und die DJs mit Namen kennen. Und immer antworten, wenn jemand fragt, wie sie_er ins Berghain kommt – egal, ob man es weiß oder nicht.
Wer kein Geld hat, vermietet seine Wohnung einfach auf Airbnb unter und schläft so lange bei Freunden. Wer kein Geld hat und trotzdem was trinken will, besucht Vernissagen.
Der Westen ist weit weg. Der M29 die schlimmste Buslinie überhaupt. Der Dreck gehört zur Stadt dazu. Alles, was sauber ist, macht Angst.
Es gibt einen berlintypischen Hass auf Touristen – obwohl die meisten Menschen hier aus irgendeinem Scheißvorort im Westen kommen. Logisch, immer gegen die Gentrifizierung sein. Zur Not Menschen in schönen Cafés anschreien.
Wer etwas über Rassismus in Berlin lernen will, sollte sich anhören, wie Biodeutsche über Neukölln, die Besetzung des Oranienplatzes oder den Görlitzer Park labern.
Die Markenzeichen der Stadt: Ironie und Coolness. Aber natürlich kritisch, politisch und so voll gebrochen.
Die Rollberg-Passagen sind ein trister Ort. Das Jobcenter Neukölln ist die Pest. Aber Projekte gehen irgendwie immer.
Wer eine_n Partner_in finden will, geht in den Bioladen. Wer Kinder bekommt, zieht nach Prenzlauer Berg oder Mitte. Wer genug hat, nach Spandau.
Ich verlasse diese Stadt und ziehe in eine neue, die ich hoffentlich ähnlich schnell zugleich hassen und lieben kann.
Also Schluss mit Berlin. Schluss mit Neukölln. Schluss mit Vollbart. Doch niemals Schluss mit Rasselbande, Pizza und Amore.
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