Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Werte, die fehlen, werden zur Litanei

Das Erste, was Kinder in der Türkei kennenlernen, ist Nationalismus. Du sollst siegen, mehr nicht! Das ist die Erwartung, die an einen gestellt wird.

Silhouette eines Mannes hinter einer Flagge

Ein Demonstrant hinter der türkischen Flagge bei einem Protestzug in Istanbul (Archivbild Juli 2016) Foto: dpa

Wenn es irgendein Gerät gäbe, das die durch die Luft fliegenden Wörter aufzählte, dann wäre „Demokratie“ bestimmt das Wort, das seit dem 15. Juli am häufigsten in der Türkei fällt. Die Namen der Boulevards, Plätze, Brücken, Parks, Schulen ändern sich häufig, die alten Schilder werden durch neue ersetzt, und auf jedem steht „Demokratie“.

Als ob man der Demokratie eine Ehre erweisen wollte, und doch ist es eine respektlose Tat. Sogar der „Business Class Lounge“ am Flughafen klatscht man den Namen „Helden der Demokratie“ an. An den Sprechpulten, vor den Mikrofonen, in allen Munde zerfließt das Wort Demokratie. „Nationale Vereinigung und Zusammenhalt“ könnte der nächste Spruch sein, der von diesem Gerät registriert würde. Genau die Werte, die fehlen, werden zu einer Litanei!

Vielleicht wird das alles eines Tages noch real, die ewige Wiederholung überzeugt uns vielleicht von der Anwesenheit der Werte, wer weiß.

Nach dem Putschversuch hätte man die Gelegenheit nutzen können, die Demokratie, die Meinungsfreiheit, den Austausch im alltäglichen Leben tatsächlich erlebbar zu machen. Aber im Gegenteil, wir sind fern von einem Rechtsstaat, „Demokratie und Vereinigung“ ist ein neuer Einschnitt!

Das Erste, was Kinder in diesem Land kennenlernen, ist der Nationalismus. Die nationalistische Bildung, die nationalistische Atmosphäre des Wassers, der Luft. Die eigene Meinung wird einem früh diktiert. Ob man dich fragt, wen du mehr liebst – Mutter oder Vater –, zu welcher Fußballmannschaft du hältst, immer erwartet man eine feste Haltung. Und dann … erwartet man, dass du dich auf die Seite der Sieger stellst. Du sollst siegen, mehr nicht!

Es ist schwer, jenen Menschen, die andere Werte und ihre Grundethik nicht verstehen, zu erklären, dass auch Menschen mit abweichenden Meinungen das Recht haben, offen zu sprechen. Auch der, der nicht auf deiner Seite steht, soll fair und würdevoll behandelt werden, selbst wenn er verurteilt, verhaftet wird. Auch er soll nicht der Todesstrafe zum Opfer fallen.

Der Schriftstellerin und Journalistin Aslı Erdoğan droht in der Türkei lebenslange Haft wegen ihrer Arbeit für die prokurdische Zeitung "Özgür Gündem". An dieser Stelle führen wöchentlich Freundinnen und Kollegen ihre Kolumne fort.

Was ist Literatur, warum schreibt der Mensch, welche Verantwortung hat ein Dichter? Sartre zitiert seinen Meister Dostojewski: Die Haftung auch für andere belastet zuerst deine Schultern, wie sollen wir dafür die Kraft aufbringen?

Alles beginnt mit Werten. Man könnte der Welt, die sich wie ein hässlicher Wolkenkratzer in den Himmel zieht, einen Garten der Gleichberechtigung schenken. Das allein unterstreicht eure Verantwortung gegenüber anderen. Sartre schreibt in Anwesenheit eines Schuhmachers: „alle sind für alles verantwortlich“. Er schreibt: Man kann nicht so lange warten, bis die Schuhe fertig sind. Deshalb hat ein Autor, ein Journalist gegenüber der Epoche, in der er lebt, eine große Verantwortung.

Die Freunde von AslıErdoğan, die Sprachverwandte von Necmiye Alpay, die Weggefährten von Tuğrul Eryılmaz. Alle haben eine Verantwortung. Der kurdische Bauarbeiter Mehmet Aytaç, der an der Baustelle von dem neuen Flughafen (angeblich von allen bewundert) verbrannt wird, weil er eben Kurde ist; alle, die die prokurdische Zeitung Özgür Gündem herausbringen und deswegen sich vor einem Gefängnisaufenthalt, vor dem Tod nicht scheuen; alle Dozenten, denen das Sprechpult grundlos weggenommen wird; alle die Gewerkschaftsarbeiter, Lehrer, denen die Stellen gestrichen worden sind; alle, die ihr Leben auf Bildung und Fortschritt gesetzt haben und in einer Nacht wehrlos geblieben sind; alle, die unter diesem Streich leiden …

Die Wahrheit ist: Die, die heute unter diesen Umständen leiden, werden nach einer positiven Wandlung bestimmt nicht für die Machttrommler das Gleiche wünschen. Weil sie an die Werte glauben, an die Würde. Die heutigen Provokateure, Machtsüchtigen werden dann das ethische Verhalten mit ungläubigen Augen beobachten, zusehen, wie es auch anders geht. Die werden es sehen, aber nicht verstehen.

Aus dem Türkischen von Canset Icpinar

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ist Journalistin, geb. 1975. Sie hat für die Tageszeitung Cumhuriyet geschrieben über Bildung, Frauen und Politik.

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