Kolumne So nicht: Das Mimimi der Überempfindlichen
Kritik diskutieren oder aushalten? Nö. Lieber Solidemo mit Doppelhashtag und Mehrfachretweet einfordern.
B is ganz kurz vorhin dachte ich, Mimimi sei der Assistent von Prof. Dr. Honigtau Bunsenbrenner Beaker und ansonsten ein Wort zur präzisen Charakterisierung eines weit verbreiteten Twitterer-Typus.
Nämlich jener, die ständig anderen auf die Mütze oder die Nase hauen und, wenn sie dabei selbst was abkriegen, nicht nur losheulen, sondern von anderen Beistand und Loyalität einfordern.
Loyalität bedeutet hier übersetzt: Mindestens eine Soli-Demo plus Lichterkette und Abschlusskundgebung mit Doppelhashtag, Mehrfachretweet, ff-Empfehlung und Thementhreads ab 1 Meter Länge.
TÜV-geprüftes Mimimi
Neben „twittert hier privat“ können sich diese Typen gerne in die Twitterbio schreiben „Mimimimi-TÜV-geprüft“.
Festzustellen ist, dass Mimimi auch außerhalb von Prof. Bunsenbrenner und Twitter existiert und damit zu dem gehört, was man landläufig gesellschaftliches Phänomen nennt. Sicher, die Neue Empfindlichkeit ist kein ganz neues Thema mehr und wird vor allem von unappetitlichen Zeitgenossen der politischen Rechten verhöhnt.
Trotzdem, eine gewisse Überdrehtheit der Überempfindlichkeit ist nicht von der Hand zu weisen.
Das irrste Beispiel derzeit: die Skandalisierungen rund um den Film Green Book, für zig Oscars nominiert und mit Golden Globes ausgezeichnet. Er handelt von der Freundschaft eines schwarzen Starpianisten und seines weißen Fahrers in den 1960er Jahren.
Anfangs lautete die Kritik, es sei ein Fühlgut-Film über Rassismus für Weiße, und die Debatte versprach interessant zu werden. Dann warfen die Nachfahren des Pianisten dem Film Geschichtsfälschung vor – der schwarze Hauptdarsteller entschuldigte sich bei den Nachfahren und meinte, damit sei jetzt aber die Debatte auch zu beenden.
N-Wort, Penis, Muslime
Beendet wurden die Diskussionen um den Film nicht. Glücklicherweise. Doch anstatt über das Dargestellte und die historischen Hintergründe zu diskutieren, wurde über N-Wörter, Penisse und Tweets gesprochen.
Also über Dinge, die so gut wie gar nichts mit dem Film und seinem Inhalt zu tun hatten: Der Regisseur dachte vor über 20 Jahren mal, dass es witzig sei, am Set die Hosen runterzulassen, der Drehbuchautor dachte vor 5 Jahren mal, dass es okay sei, zu twittern, dass Muslime sich über den Terroranschlag von 9/11 gefreut hätten, und der weiße Hauptdarsteller dachte bis vor Kurzem, dass es okay sei, das Wort „Nigger“ und nicht „N-Wort“ zu sagen, wenn man das als Zitat von Rassisten kenntlich machen will.
Alle Beschuldigten haben sich für das Gesagte und Getane nach Skandalisierung umgehend entschuldigt. Und jetzt?
Für Waren der Kulturindustrie ist „kontrovers und umstritten“ die eigentliche Währung. Den Film- und Büchermachern dürfte das derzeitige Mimimi-Niveau ganz gut reinlaufen. Besser jedenfalls als drastische inhaltliche Kritik. Für ein falsches Wort oder einen blöden Witz kann man leicht um Entschuldigung bitten. Für ein ganzes Werk eher nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin