Kolumne Schlagloch: Mehr Kunst aushalten
Kunst und Künstler müssen nicht charakterlich untadelig sein. Das führt zu Sterilität im Kulturbetrieb. Wir müssen Uneindeutigkeit aushalten.
W as darf Kunst eigentlich, was soll sie dürfen, und was sind das für Künstler, in die wir noch genügend Vertrauen haben, um uns ihrer Kunst auszusetzen? Welchen moralischen Prüfungen muss er oder sie standhalten, welche außerästhetischen Kriterien müssen erfüllt werden, damit etwa eine Provokation als gesellschaftlich aufrüttelnd und nicht als verletzend wahrgenommen wird?
Während in Deutschland vergangene Woche ein neues Rammstein-Musikvideo, in dem Bandmitglieder in KZ-Häftlingskleidung zu sehen waren, heftige Kritik auslöste, verhinderten Anti-Rassismus-Gruppen in der Pariser Elitehochschule Sorbonne die Aufführung der griechischen Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos – eines hochaktuellen Stücks über die Frage nach Asyl und politischer Verantwortung, in dem allerdings Masken und dunkle Schminke verwendet werden sollten. Zugleich gibt es derzeit vehemente Forderungen, die Werke von Künstlern zu verbieten, die in ihrem Privatleben in gravierendem Maße Menschen ausgenutzt oder gar misshandelt haben. Intuitiv ist das sofort nachvollziehbar, nur bleibt dabei unberührt, ob einem Kunstwerk oder einem künstlerischen Engagement jenseits der Verwerflichkeit des Schöpfers, der Schöpferin ein Wahrheitsanspruch zukommt.
Im letzten Jahr war ich bei einer Podiumsdiskussion, bei der unter anderem Klaus Theweleit darüber sprach, wie in Europa ein ganzer Kontinent, Afrika, aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt werde. Er verglich es mit dem viel kleineren und privaten Leugnen einer Geliebten, aus dem Bedürfnis heraus, sich ein eigenes integres Selbstbild zu bewahren. Solche verdrängten Geschichten gibt es natürlich auch im Kulturbetrieb: Nehmen wir eine sich in der Arbeit für die Sichtbarmachung von gesellschaftlich verdrängten Problemen einsetzende Künstlerpersönlichkeit, der oder die ein geregeltes Familienleben führt, nebenher aber immer wieder Geliebte hat, die dann ebenso wie der feste Partner oder die Partnerin über die Existenz des jeweils anderen getäuscht werden.
Das wäre zwar eine unerfreuliche Geschichte, die etwas erzählt über Hierarchien sowohl auf dem Kultur- wie auf dem Beziehungsmarkt und natürlich über Verdrängungsmechanismen, aber sie hat weder die Sprengkraft eines Kachelmannskandals noch reicht sie an eine #MeToo-Erfahrung heran. Sie ist vermutlich eher recht gewöhnlich, gerade darum dennoch erzählenswert, weil sie im Kleinen einige Fragen berührt, die derzeit in der Debatte über politische Korrektheit und private Integrität von Kunstschaffenden immer wieder mit einer gewissen Verbissenheit gestellt werden, und die mit den großen, schockierenden Beispielen oft schnell zu einer emotional aufgeladenen Diskussion führen, die eine nüchterne Betrachtung erschwert.
Ohne Ambivalenz lässt sich die Gesellschaft nicht verstehen
Es geht, lapidar gesagt, um die alte Frage, ob man Wasser predigen und Wein trinken darf, ferner ob man es soll und überhaupt kann. Muss ein Künstler über ein Privatleben verfügen, das den moralischen Ansprüchen der eigenen Arbeit und/oder denen der Gesellschaft genügt, nicht zuletzt, damit das Werk, womöglich noch mit politisch-ethischer Façon, nicht zwischen Heuchelei und PR-Coup hängenbleibt?
Spontan mag man dies bejahen, entspricht dies ja auch dem derzeit höchst akuten Wunsch nach moralisch ungebrochenen Charakteren, der Ablehnung von oder auch der Angst vor Ambivalenz in diesem Bereich, der Sehnsucht nach einer Welt, in der eindeutig das Gute hier steht und das Schlechte da drüben. Dabei wissen wir eigentlich nur allzu gut, dass diese Klarheiten Trug sind. Ohne Ambivalenz lässt sich eine Gesellschaft weder im Kleinen noch im Großen verstehen und in Bezug auf künstlerische Arbeit ist zudem geradezu binsenweisheitlich bekannt, dass sich bestimmte kompensatorische Dynamiken mitunter durchaus positiv auf den Schaffensprozess auswirken können, wenngleich nicht unbedingt auf das Umfeld des Künstlers (oder der Künstlerin, historisch gesehen dominiert hier allerdings das Maskulinum).
Nicht zwingend, aber auch nicht ganz unüblich ist es, dass gerade jene, die zu viel Wein trinken, umso besser dagegen ansprechen können, und mitunter waren und sind die großen moralischen Mahner Menschen, die selbst Leichen oder sagen wir vorsichtiger: nicht ganz geklärte Geschichten im Keller haben. Künstler sind niemals nur Beschreiber der Gesellschaft, sondern immer auch Teil von ihr. Sie können sie nicht zur Gänze greifen, sondern werden sich in einer Suchbewegung um sie herum ihnen annähern und vor ihnen zurückweichen.
Der derzeit so oft formulierte Wunsch nach vollkommener Aufgeklärtheit über die eigenen Regungen, nach einer absoluten Charaktertransparenz (und damit auch bitteschön gleich einer geprüften charakterlichen „Gutheit“) ist möglicherweise illusorisch. Falls nicht, könnte seine Durchsetzung am Ende zu einer gewissen Sterilität in der Kunst führen, die schließlich zumindest zum Teil von unauflösbaren Widersprüchen lebt.
So immens wichtig es ist, in allen Gesellschaftsbereichen, auch dem Kulturbetrieb, gegen Diskriminierung, Missbrauch und das Ausnutzen von Privilegien und Machtungleichgewicht einzutreten, sollte die Debatte in Bezug auf das Wesen der Kunst so viel Leichtigkeit und Freiheit zurückgewinnen, dass zumindest wieder unterschieden werden kann zwischen Leben und Werk, zwischen einzelnen Ingredienzen eines Kunstwerks und ihrer Wirkung im Zusammenhang. Kunst mit Reglementierung zu begegnen, wird sie nicht hellsichtiger machen. Nicht was sie darf und was nicht, sondern was sie sich zutraut und aushält, wäre die interessante Frage. Statt eines röntgenartigen Durchleuchtens der eigenen Handlungslogik könnte das eher ein Wissen um die uns je eigene Verletzbarkeit sein.
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