Kolumne Nach Geburt: Eltern, zusammenreißen!
Warum können Eltern den Gedanken nicht ertragen, dass ihr Kind mittelmäßig sein könnte? Was Besseres kann ihnen nicht passieren.
V ermutlich haben Sie das Foto gesehen: Wie verzweifelte Eltern im österreichischen Linz ihre verzweifelten Kinder beim Marathon der Drei- bis Vierjährigen ins Ziel zerrten. 40 Meter war die Distanz, die die Kinder zu absolvieren hatten. Selbst wenn sie gehen, dauert das nicht unendlich lang. Warum konnten die Eltern sich nicht für ein paar Minuten zusammenreißen?
Als mein Vater mich in der F-Jugend zum Fußballspiel fuhr, war er quasi nicht da. Ist vielleicht auch nicht der pädagogisch wertvollste Umgang, aber immerhin: Druck gab es keinen. Er kam erst (mit mir) zu spät zum Treffpunkt, während des Spiels schnackte er mit anderen Eltern, und sein Ehrgeiz wurde erst geweckt, nachdem der Schiedsrichter abgepfiffen hatte: Dann sollte ich so schnell wie möglich meine Schuhe ausziehen, damit er sie fix putzen könnte während ich duschte, und dann ab nach Hause, auf dass noch möglichst viel Zeit vom Wochenende abseits des Fußballplatzes übrig bliebe.
Was ist zwischen damals, Anfang der 90er, und heute passiert? Warum können sie den Gedanken nicht mehr ertragen, dass ihr Kind mittelmäßig sein könnte? Zumindest beim Laufen oder Fußballspielen oder Rechnen oder Schreiben oder sonst was.
Machen Sie den Schnelltest!
Mittelmaß ist doch prima. Man kann so schön in der Masse untertauchen. Man wird nicht vom Lehrer aufgerufen, weil man weder auf jeden Fall die Antwort weiß noch auf jeden Fall versagen würde. Ach, Mittelmaß macht die Kindheit und Jugend dreimal entspannter.
Auf der Seite des Satire- und Wissenschaftsmagazins Titanic gibt es den schönen Schnelltest für Eltern: „Ist mein Kind hochbegabt?“ Man drückt auf Start und dann kommt: „Nein.“ Test vorbei.
Meine Freundin sagte kürzlich über Tochter eins: „Immer wenn man sich wundert, wie schlau sie ist, macht sie etwas Dummes.“
Manchmal gehen Schlau- und Dummheit auch Hand in Hand. Wenn sie morgens in unser Schlafzimmer einreitet und plärrt „Fahrkarten, bitte!“, ist das völlig deplatziert, weil sie überhaupt nicht weiß, was das heißt, und gleichzeitig ungewollt klug, denn was lässt einen schneller aus dem Schlaf hochfahren als ein zackiges „Fahrkarten, bitte!“?
„Richtig Schaukeln“
Und warum können so viele Eltern nicht mehr desinteressiert sein? Auch das ist eine völlig unterschätzte Tugend. Wenn meine Tochter spielt, soll sie spielen. Wird schon gut gehen. Und wenn nicht, sind sie oder ihre Freunde schon laut genug, sich Gehör zu verschaffen. Vor Kurzem wurde ich von einer Mutter aufgefordert, meine Tochter doch mal von der Schaukel zu entfernen, da sie „nicht richtig“ mit dieser spiele. Die Tochter dieser offenkundig sehr interessierten Mutter konnte natürlich schon „richtig“ schaukeln.
Glückwunsch. Eins zu null für sie. Ich konnte mich gar nicht richtig empören. Ich musste lachen. Aus Sicht dieser Mutter verwirkt ein Kind sein Recht auf Spielzeug, wenn es dieses nicht in ihrem Sinne richtig bedient. Dieser Gedanke ist so blöd, der ist auch schon wieder schlau.
Schade, dass meine Tochter zu dem anderen Kind nicht einfach „Fahrkarten, bitte“ gesagt hat.
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