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Kolumne MachtWir alle üben noch

Bettina Gaus
Kolumne
von Bettina Gaus

Unflätige Beschimpfungen, massive Bedrohungen – im politischen Raum verroht die Gesprächskultur. Aber es formiert sich eine Gegenbewegung.

Miteinander statt gegeneinander – ist das denn so schwer? Foto: Imago / Blickwinkel

E s kommt vor, dass ich eine ganz klare Meinung zu einer Meldung habe – nur leider jedes Mal eine andere, wenn ich darüber nachdenke.

Zum Beispiel dazu: Die Obleute aller Fraktionen im Petitionsausschuss des Bundestages haben gemeinsam beschlossen, das Diskussionsforum zur Petition gegen den „Global Compact for Mi­gration“ (den UN-Migrationspakt) auf der Internetplattform vorzeitig zu schließen. „Unsachlich, beleidigend, agitatorisch“ seien viele der etwa 6.000 Diskussionsbeiträge, teilweise sogar strafrechtlich relevant. Eine Moderation sei unter diesen Umständen nicht mehr möglich.

Donnerwetter. Wenn das keine staatliche Bank­rotterklärung ist. „Wir stellen fest, dass die AfD und ihr nahestehende Bürgerinnen und Bürger versuchen, eine politische Kampagne gegen den Global Compact for Migration im Petitionsausschuss zu führen“, erklärte der Ausschussvorsitzende Marian Wendt. Und ein solcher Versuch genügt, um eine Diskussion abzuwürgen? Unter einer wehrhaften Demokratie habe ich mir etwas anderes vorgestellt.

Einerseits.

Andererseits sehe ich auch nicht ein, warum Internet-Trolle ungehindert ihren Spaß haben sollen, Arbeitskraft binden können und die Bundestagsverwaltung am Nasenring durch die Manege führen dürfen. Zumal es nicht bei unflätigen Mails bleibt.

Wochenendkasten 8./9. 12. 2018

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Tagesspiegel berichtet, eine Mitarbeiterin des Petitionsausschussdienstes sei so massiv bedroht worden, dass sie – erfolgreich – um ihre Versetzung gebeten habe. Der CDU-Politiker Wendt erzählte der Berliner Zeitung, er sei als „Migrationsfaschist“ und „Merkeldreckstück“ beschimpft worden. In rechten Blogs kursiert mittlerweile die Lüge, die Petition selbst sei gelöscht und die Meinungsfreiheit eingeschränkt worden.

Und nun? Was ist der richtige Umgang mit Leuten, die sich nicht an Spielregeln halten, weil sie am liebsten das ganze Spiel vom Tisch fegen wollen? Ich weiß es nicht, und ich bin mit meiner Ratlosigkeit nicht alleine. Die ganze Gesellschaft übt noch. Einen Königsweg scheint es nicht zu geben, hilflos und ungelenk wirken die Versuche einer angemessenen Reaktion allzu oft.

Ein – vermutlich – afrikanischer Kunde wurde zur lebendigen Geduldsprobe. Er wünschte detaillierte Auskunft zu zahlreichen Produkten, fand sein Geld nicht, brauchte für jeden Handgriff ewig. Eine Heimsuchung.

Einerseits.

Andererseits, und das finde ich doch sehr ermutigend: Noch nie habe ich im öffentlichen Raum soviel Höflichkeit erlebt wie derzeit. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir unaufgefordert der Koffer abgenommen und oben auf der Gepäckablage verstaut wurde, wieviel Mühe sich Leute geben, wenn sie um eine Wegbeschreibung gebeten werden, wie häufig ich sehe, dass Älteren ein Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln angeboten wird. (Nicht in Berlin, zugegeben, aber in Hamburg und München. Das ist jedoch ein anderes Thema.)

Manchmal kommt es mir so vor, als riefe die steigende Aggressivität in der politischen Auseinandersetzung bei vielen Einzelnen eine ganz eigene Form der Gegenwehr hervor. Größere Achtsamkeit, mehr Rücksichtnahme. Nein, ich kann den Zusammenhang nicht beweisen. Aber es gibt Hinweise.

Zum Beispiel letzten Samstag in der unzumutbar langen Warteschlange im Supermarkt. Ein – vermutlich – afrikanischer Kunde wurde zur lebendigen Geduldsprobe. Er wünschte detaillierte Auskunft zu zahlreichen Produkten, fand sein Geld nicht, brauchte für jeden Handgriff ewig. Eine Heimsuchung.

Und wir? Schauten angestrengt woandershin, niemand ließ sich die eigene Ungeduld anmerken. Kein Augenrollen, nichts. Es war, als hätten wir alle gleichzeitig gemeinsam beschlossen, dass alles, selbst diese blöde Warterei, besser ist als noch der kleinste Anschein von Ausländerfeindlichkeit. So beschwingt habe ich einen Supermarkt selten verlassen.

Wir sind mehr. Sollen die Trolle doch trollen. Dazu fällt uns auch noch etwas Sinnvolles ein. Wir sind nämlich tatsächlich mehr.

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Bettina Gaus
Politische Korrespondentin
Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).
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20 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Die Beschwingtheit von Frau Gaus bei ihrem Supermarkt-Erlebnis mag ich nicht mit ihr teilen. Ich hätte vermutlich nicht die Geduld zum endlosen stoischen Warten aufgebracht, sondern hätte versucht, die Situation aufzulösen.

    In ihrem Fazit stimme ich ihr jedoch unumwunden zu. So gespalten unsere Gesellschaft in sozialen und finanziellen Dingen ist, so gespalten ist sie auch in Umgangsformen.

    Bei jeder Fahrt mit dem Bus in die nächste Stadt bekomme ich dies mit: archaisch geprägte Situationen wie der fast handgreiflich ausgetragene Streit zwischen griechischem Kontrolleur und türkischem Fahrgast. Die Geschichte war unsichtbar dabei. Ein Hahnenkampf zum Davonlaufen.

    Auf der anderen Seite berührende Erlebnisse, die zeigen, dass nicht alle Menschen der großen Hysterie erlegen sind. Bei manchen ist das Potenzial offenbar noch abrufbar. Und im Glücksfall ist dieses Potenzial von Höflichkeit und sozialem Verhalten bestimmt.

  • Die Situation die im Supermarkt beschrieben wird ist kein Zeichen des Fortschritts, sondern politische Korrektheit in ihrer übelsten Form. Da ging es nicht um Rassismus, da haben sich Menschen eine ganz normale Reaktion verkniffen, weil sie Angst vor ungerechtfertigten Anschuldigungen hatten.

    Es sollte keine Rolle spielen das dieser Mann schwarz ist. Es ist absolut legitim sich über das Verhalten einer Person zu ärgern, wenn dieses unangemessen ist.

    Hilft ja auch nicht die Menschen so unter druck zu setzen das sie sich nicht mehr trauen den Mund auf zu machen. Dann lassen sie ihrer Wut halt in der Wahlkabine freien Lauf. Da kann man den Menschen mit repressiven Sozialnormen nicht beikommen.

  • 9G
    97088 (Profil gelöscht)

    Mir ist die Feststellung wichtig: Die Gesellschaft (Wer genau ist das eigentlich?) übt nicht. Noch nie! Was wir alle zusammen tun und treiben ist immer authentisch und man nennt es Kultur. Und in dieser Kolumne werden unterschiedliche kulturelle Kompetenzen angesprochen; z. B. der persönliche Umgang miteinander, der Umgang in sozialen Räumen (Supermarkt) und eben auch der Umgang in anonymen virtuellen Räumen. Und da unsere Bildungspolitik den gesellschaftlich adäquaten Umgang mit eben diesem Räumen virtueller Realität mit dem Vorteil, persönlich unkenntlich zu sein, seit über 20 Jahren ignoriert - haben wir jetzt den Salat. Da wird die Unmöglichkeit der (sozialen) Sanktionen und der ggf. strafrechtlichen Verfolgung schnell über Freiheit zur Verantwortungslosigkeit. Ist so!



    Das gilt im Übrigen auch für die TAZ: Mir ist es ein Dorm im Auge, dass die TAZ-Kommentarfunktion anonym genutzt werden kann. Auch hier verstecken sich - durch aus kluge - Köpfe in der Anonymität. Über die Gründe kann ich nur spekulieren.

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @97088 (Profil gelöscht):

      "Auch hier verstecken sich - durch aus kluge - Köpfe in der Anonymität. Über die Gründe kann ich nur spekulieren."



      Bescheidenheit? Der Widerwille, seinen Esprit und seinen Namen gleichzeitig ostentativ ins Rampen-Licht zu zerren ?



      ;)

      • @61321 (Profil gelöscht):

        Ach was! (Vagel Bülow;) Liggers.

        Aber schon meine Strafverteidigerweggefährten -



        Raten angesichts R 1-Rentier-Salär ab. Newahr.



        Normal & Dringend.



        &



        Sicher - judex non calculat - uns Ol aber - war Koofmich.



        Mit Verlaub. Stimme also zu.

      • 9G
        97088 (Profil gelöscht)
        @61321 (Profil gelöscht):

        Bescheidenheit? Nö - glaube ich nicht. Eher unter dem großen Mantel der Vorborgenheit handeln. Meine Vermutung.

  • Zum "Einerseits" stellt sich mir seit einiger Zeit die Frage, warum Medien und andere Einrichtungen ihre Reichweite Trollen und Geiferern zur Verfügung stellen. Warum muss es zu jedem Beitrag eine Kommentarfunktion geben? Sollen die Trolle und Hasser ihr Gift doch auf ihren Seiten versprühen. Wer sich dorthin begibt, mag davon kosten. Aber es würde ihnen nicht mehr der Hebel der Reichweite der Medien in die Hand gegeben.



    Ja, auch diesen Beitrag könnte man dann nur auf meiner Seite lesen, die vermutlich niemand besucht.



    Es ließe sich verschmerzen.

  • Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht. Und zwar mit der Jugend.



    Wo vor einigen Jahren noch an den Haltestellen über niveaulose Banalitäten geredet wurde: "Alta die da sollte man mal beim Gang Bang rischtisch rannehm Digga" (Als ich so etwas hörte, da war es so weit, ich fühlte mich alt weil ich die Jugend nicht mehr verstand.)



    Hörte ich nach der Wahl 2017 Jugendlich die über Politik redeten. Und nich nur kurz nach der Wahl. In der Bahn wurde darüber geredet ob es eine Jamaika Koalition geben wird oder nicht, später warum sie gescheitert ist.



    Und eine Diskussion ließ mich dabei schmunzeln:



    "Ich glaube, 50% der AfD-Wähler sind einfach nur frustriert."



    "Ich glaube, 50% der AfD-Wähler sind einfach nur Idioten."



    Mit so einer Jugend kann es nur besser werden!

    • @derSchreiber:

      "Alta die da sollte man mal beim Gang Bang rischtisch rannehm Digga"

      @DERSCHREIBER



      Sorry aber die Aufforderung zur Gruppenvergewaltigung ist keine "niveaulose Banalität".



      Im übrigen nehme ich einfach mal an, Sie haben zwei verschiedenen Gruppen von Jugendlichen zugehört.



      So einfach erklären sich manchmal die Dinge....

      • @Amandas:

        Es gibt einen Unterschied zwischen Gang Bang und Gang Rape.

  • „Internet-Trolle ungehindert ihren Spaß haben sollen, Arbeitskraft binden können und die Bundestagsverwaltung am Nasenring durch die Manege führen dürfen.“

    Erstens müssen sich alle Teilnehmer via Ausweis registrieren lassen. Mögliche Beleidigungen sind also problemlos zu verfolgen. Zweitens ist es Aufgabe jeder Verwaltung, die Arbeitskraft für den Souverän zur Verfügung zu stellen. Ob nun die Anliegen auf eigene Zustimmung treffen oder nicht. Drittens ist es ein seltsames Verständnis vom Empowerment, die Legislative und Exekutive vor der eigenen Unfähigkeit und Selbstüberheblichkeit schützen zu wollen.

  • Es gibt keine politische Öffentlichkeit mehr. Sie wird von Rechten Trollen, Agenturen und Automaten bestimmt.

    Die Zeit der bürgerlichen Demokratie ist vorbei. Facebook und co haben sie zerstört.

  • "Die Obleute aller Fraktionen im Petitionsausschuss des Bundestages haben gemeinsam beschlossen"

    Da die AfD diesen Beschluss kritisiert, wie aus dem weiteren Text ja hervorgeht, scheint es mir unplausibel, dass sie diesen Beschluss selber mitgetragen hat.

    Dann waren es aber nicht die Obleute _aller_ Fraktionen.

    • Bettina Gaus , Autorin des Artikels, Politische Korrespondentin
      @Huck :

      Doch. Auch die AfD hat ihn mitgetragen - absurd, aber eben zutreffend. Wäre eine eigene Kolumne wert....

      • @Bettina Gaus:

        Yes. We are still waiting.;)



        &



        Geschätzte - Dank im Voraus. Liggers.



        Normal.

  • Vielleicht ist diese Verrohung zumindest teilweise auf Kuscheltendenzen im politischen Mainstream zurückzuführen? Wenn alle Mitte sein wollen, dann wird der politische Streit halt außerhalb ausgetragen.

  • Ja, das stimmt, ich habe den selben Eindruck. Auch in Berlin. Gelegentlich entsteht sogar ein freundliches Miteinander. Gegen die Bösartigkeit Anderer hilft das allerdings überhaupt nichts.

  • Wenn wir Vergleiche aus der Welt des Sports ziehen. Egal ob Fußtritte beim Kicken oder Tiefschläge beim Boxen, oder Doping. Was würden wir mache? Was wird da getan? Zumindest ab dem Zeitpunkt ab dem jeder die Regeln verstanden hat?



    Und wenn derjenige dann Opfer spielt und hinterher beileidigt ist, dass er nicht mehr mitspielen darf?



    Ist dann doch nicht gar nicht so einfach wenn das die Blaupause wäre:



    Plattform mit Beweisführung erstellen, Internetschiedsrichter ausbilden und einsetzen. Löschen, löschen, löschen, oder gar Rechtssprechung definieren und sperren, sperren, sperren.



    Meinungsfreiheit scheint mir nicht beliebig ausdehnbar, zumal dann wenn sich Einzelne nicht schützen können. Den Typen kann man nicht ausweichen, die kommen doch ohne dass ich (als Verlag, Plattformbetreiber oder Kommentator) das ändern kann in meine Aktionsradius! Also wehren, verteidigen, attackieren.

  • Das finde ich gut und wichtig: Wir sind mehr. Und immer dann, wenn einer die Regeln des Anstands wiederholt bricht, sind wir in der Lage, das zu benennen. So langsam bekommt man vielleicht auch Übung darin, noch mit den beschränktesten unter den Hasserfüllten umzugehen.



    Im Übrigen habe ich auch oft das Gefühl, es gebe mehr Höflichkeit. Mir fällt schon seit Jahren auf, dass seit irgendwann die Menschen einander im öffentlichen Umgang ein schönes Wochenende, einen schönen Tag usw. wünschen. Das mag ich.

    • 9G
      99960 (Profil gelöscht)
      @Karl Kraus:

      Wer ist dieses „wir“? Wenn es um von und als positiv empfundene Dinge geht, ist ein „wir“ offensichtlich jederzeit erwünscht und darf ganz unbefangen pauschal geäußert werden. Und in den anderen Fällen? Wenn überhaupt: Dieses „wir“ ist das Freundliche und das Unfreundliche. Alles andere ist Spalterei, auch wenn es wehtut das zu akzeptieren und so harmlos wie die meisten über sich denken, sind sie gewiss nicht.