Kolumne Macht: Zurschaustellung von Solidarität
Die Staatschefs, die in Paris trauerten, waren bestimmt erschüttert. Aber nicht so, dass sie ihre Lippenbekenntnisse auch ernstnähmen.
N ichts gegen Schalmeientöne, es gibt ja viele Leute, denen so etwas gefällt. Nichts gegen ein wohliges Gemeinschaftsgefühl, das sich auf eine vermeintliche Übereinstimmung in wichtigen Fragen stützt, von der man wissen könnte, dass sie dem Alltag nicht standhält. Nichts gegen verlogene Gesten auf Trauerfeiern, sie sind bei derlei Anlässen üblich. Aber man kann es auch übertreiben mit der Heuchelei.
Es hat den Überlebenden des Satiremagazins Charlie Hebdo nichts genutzt, dass sie sich wütend gegen Vereinnahmungen zur Wehr gesetzt haben. Diejenigen, die ein Interesse an der Zurschaustellung von Solidarität hatten, verfügten über wirksamere Mittel.
Damit soll den internationalen staatlichen Repräsentanten in Paris nicht pauschal abgesprochen werden, erschüttert gewesen zu sein. Vermutlich waren sie es, die Ereignisse wenige Tage zuvor waren ja schrecklich genug. Aber so erschüttert, dass sie ihre eigenen Lippenbekenntnissen ernst genommen hätten – nein, so erschüttert waren sie nun auch nicht.
Von dem hohen Wert der Meinungs- und Pressefreiheit war in den letzten Tagen viel die Rede. Und dann marschieren die Freiheitskämpfer Seit‘ an Seit‘ mit Vertretern von Staaten, in denen Blogger ausgepeitscht oder Leute zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt werden, weil sie an friedlichen Demonstrationen teilgenommen haben. Dem Westen sind strategische Verbündete im Nahen Osten wichtig genug, um sich um die inneren Verhältnisse in dem jeweiligen Land nicht zu scheren.
Mehr noch: Den Regimen wird sogar – im Wortsinne – die Munition geliefert. So finanzieren die USA einen großen Teil des ägyptischen Militärs, das in Kairo auf Andersdenkende schießt und Kritiker willkürlich festnimmt. Kürzlich wurde dort jemand verhaftet, weil er in einem Café über Politik gesprochen hatte. Die Gedanken sind frei. Aber auch nur die. Von Reden, Schreiben, Diskussionen und Versammlungen steht in dem Volkslied nichts. Aber man muss gar nicht so weit in die Ferne schweifen.
Allmählich zeigt sich, wie brüchig der Pariser Anschlag Frankreich gemacht hat. „Die Muslime werden dafür teuer bezahlen“, sagt Bestseller-Autor Taher Ben Jelloun in der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015 Und: „Charlie Hebdo“ spottet weiter: ein weinender Mohammed auf der Titelseite, im Heft Scherze über Dschihadisten. Die Streitfrage „Muss man über Religionen Witze machen?“ Außerdem: Keine Angst vor Hegel. „Viele denken, sie müssten das sorgfältig durchstudieren, wie über eine lange Treppe aufsteigen. Ich finde, man kann auch mittendrin irgendetwas lesen.“ Ein Gespräch mit Ulrich Raulff, dem Leiter des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ausgerechnet in Frankreich wurde jetzt der Komiker Dieudonné in Polizeigewahrsam genommen. Wegen Verherrlichung des Terrorismus soll ihm der Prozess gemacht werden. Er hatte Sympathien für die Gewalttäter von Paris erkennen lassen.
Es gibt gute Gründe, den 48-Jährigen abstoßend zu finden. Sein Antisemitismus und seine Kontakte zu Rechtsextremen genügen dafür schon, da hätte es der jüngsten Geschmacklosigkeit gar nicht bedurft. Aber es ist ein Unterschied, ob man jemandem nicht die Hand geben möchte oder man ihn für seine Ansichten bestraft sehen will.
Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass jemand so oft und so laut all das sagen darf, was die Mehrheit der Gesellschaft für richtig hält. Nicht einmal dann, wenn es die überwältigende Mehrheit ist. Sondern dass jemand auch das Gegenteil dessen sagen darf. Das ist selbst innerhalb der Europäischen Union, deren Politiker und Politikerinnen sich wegen ihrer Freiheitsliebe derzeit so gerne auf die Schulter klopfen, keine Selbstverständlichkeit. Sondern ein Recht, das ständig neu erkämpft werden muss.
Ach ja: Bei der Meinungsfreiheit handelt es sich übrigens um ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, nicht um das Recht auf Bekenntnisse zur staatlichen Ordnung. Das ist in den letzten Tagen gelegentlich aus dem Blickfeld geraten.
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