Kolumne Lügenleser: Alte Herren mit Splittern im Kopf

Früher galten Kriegstraumata als Entschuldigung für sonderbare Männer. Bei Merz und Trump scheint jedoch einfach die Zeit stehengeblieben zu sein.

Friedrich merz mit gefalteten Händern und Uhr am Armgelenk.

Eine Uhr hat Merz zwar – doch die scheint wohl rückwärts zu laufen Foto: dpa

Es gab mal eine Phase, da wurde das zweifelhafte Verhalten vieler älterer Herren mit Granatsplittern im Kopf oder Kriegstraumata erklärt. Meine Schwiegermutter etwa hatte einen Onkel Rudi. Der legte, neben seiner Alkoholsucht, ab und zu ein sonderbares Verhalten an den Tag, gebärdete sich cholerisch und redete wirres Zeug. Vor allem aber fehlte ihm jegliches Zeitgefühl. Dem damals 5-jährigen Mädchen wurde erklärt, der Onkel habe nun mal diesen Spleiß da oben drin und wenn der sich bewegt, dann wird er eben merkwürdig. Es sei jedoch nicht seine Schuld.

Außerdem, und das schockierte meine Schwiegermutter viel mehr, könne er aufgrund des vom Russen als Andenken hinterlassenen Metallteils im Schädel, jede Sekunde tot umfallen. Zackbumm! Das Mädchen verbrachte seitdem viele Feiern damit, den Onkel ununterbrochen anzustarren, um bloß den Moment nicht zu verpassen, in dem er das Zeitliche segnet. Während der Epoche der Kriegsversehrten gab es offenbar jeden Menge „Onkel Rudis“ in deutschen Familien. Ich kann dazu nichts sagen, meine Ur-Großeltern waren damit beschäftigt, mit ihren Nachfahren nicht über die Erlebnisse als KZ-Insassen zu sprechen.

Heutzutage sind die meisten Onkel mit den Splittern im Kopf verstorben. Sollte man meinen. Wenn man jedoch die illustre Schar der derzeit auf dem politischen Parkett agierenden Herren genauer betrachtet, scheinen viele von ihnen ebenfalls das Gefühl für Raum und Zeit verloren zu haben. Einige wirken gar wie Untote, die man aus ihrem konservativen Massengrab hervorzog und als tanzende Zombies dem zahlenden, nach Besserung lechzenden Publikum vorführt. Prominente Beispiele wären die Dackelkrawatte von der AfD oder Friedrich Merz, dem offenbar im Jahr 2000 die innere Uhr abhanden gekommen ist.

Gauland hat seine Kuckucksuhr bekannterweise wesentlich früher irgendwo zwischen Maas und Memel verloren. Zwar konnte Merz sich seitdem theoretisch die ein oder andere Rolex leisten, aber die Entwicklungen der letzten 15 Jahre sind für ihn offenbar nur eine kurzweilige Verwirrung. Das lässt sich alles wieder gerade biegen, man muss nur den Zeiger etwas rückwärts drehen. Und schon bald haben wir wieder die wunderbaren 50er, als Mutter zu Hause am Backofen stand und die alten Männer wirres Zeug reden durften. Und dann wird alles gut!

Ein Trugschluss. Weder Merz, noch Gauland, kein Trump, Kurz und kein Orbán werden das Rad der Zeit zurückdrehen. Sie können sich vielleicht bei den Familienfesten am Kopf der festlich gedeckten Tafel daneben benehmen und rumschreien, kurzfristig für Unbehagen sorgen und auf den Tisch hauen. Und währenddessen, starren wir sie alle an. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Man möchte ihnen zurufen, dass sie sich doch endlich den Splitter raus operieren lassen sollen. Viele von uns sind da gern behilflich. Ansonsten bleibt uns immer noch die zweite Variante: abzuwarten bis sie demnächst einfach umfallen.

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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