Kolumne Jungswelten, Mädchenwelten: Wolfsburg sehen und leiden
Brasilien gegen Norwegen im trostlosen Wolfsburg: Ö. will WM-Stimmung, aber nicht selber dafür sorgen.
N ö, sagt Ö. In dieser Kneipe namens "Bierbrunnen" möchte sie nicht Platz nehmen.
Dabei hatte sie auf der Fahrt erzählt, dass sie neben dem Spiel auch "die Stimmung" miterleben möchte. Nun, nach einem Plausch im Bahnhof mit einem auffällig hübschen Bundespolizisten um die dreißig ("Wir erwarten hier keine Ausschreitungen") und einer auffällig aufgekratzten freiwilligen Helferin um die vierzig ("für Wolfsburg ist die WM eine ganz große Sache"), stehen wir am menschenleeren Bahnhofsvorplatz.
Es muss der hässlichste aller hässlichen Bahnhofsvorplätze der Welt sein: ein Betonklotz mit Cinemaxx (Hauptprogramm: "Werner - Eiskalt"), einige wie überdimensionierte Baucontainer wirkende Gebäude, ein Parkplatz, Brachland. Und im Hintergrund Fabriktürme mit dem VW-Logo. Wolfsburg, so viel ist uns bereits klar, ist ein Ort, an dem man nicht sein möchte und den es besser nie gegeben hätte.
Ü. ist Redakteur im WM-Team der taz.
Zur trostlosen Szenerie passt das Wetter: nass, kalt, grau. Es sieht nicht nur aus, es fühlt sich auch an wie November. "Wolfsburg von seiner schönsten Seite", nölt Ö. den offiziellen WM-Werbespruch zitierend.
Ein paar Schritte weiter hören wir Gesänge. "Stimmung, Samba!", strahlt Ö. Es ist tatsächlich Stimmung - aber so, wie sie deutscher und miefiger nicht sein könnte. Im "Bierbrunnen" sitzt eine Gruppe Männer um die fünfzig, eher VW-Facharbeiter als Stützebezieher, alle im Deutschland-Deppen-Outfit (Perücken, Girlanden, Schminke), im überdachten und mit Schwarz-Rot-Gold verzierten Kneipengarten.
Aus den Boxen dröhnt ein deutscher Schlager, die Männer singen mit. Oder singen sie etwas anderes? Genau zu erkennen ist das nicht. Daneben jedenfalls sitzt eine Brasilianerin gleichen Alters und fotografiert lächelnd den Nachbartisch. "Deutsche Fans beim Feiern", wird sie vielleicht später erzählen und das vielleicht nicht einmal böse meinen.
Eingewickelt ist sie in eine brasilianische Fahne. "Ordem e Progresso", "Ordnung und Fortschritt" steht darauf. "Das ist so, als würde auf der deutschen Fahne ,Party und Rhythmus'" stehen, bemerkt Ö. spitzfindig. Aber sich dazusetzen will sie nicht: "So hart bin ich nicht."
Wir gehen weiter, durch eine Fußgängerzone, die noch öder wirkt als jede andere deutsche Fußgängerzone an einem verregneten Sonntag. "Das ist ja sogar schlimmer als Bielefeld", meint Ö. fachmännisch.
Dann die Wolfsburger "Fanmeile": Ein Bierzelt mit Bühne, auf der der Moderator eines Lokalradios eine Handvoll junger Handballerinnen mit Fragen malträtiert, die sich anhören, als hätte sie sich der Bürgermeister persönlich ausgedacht: "Wer ist WM-Botschafter von Wolfsburg?" Die Mädchen sind zwar jung, aber nicht so jung, dass sie sich bei diesen Fragen und der Clownsschminke im Gesicht, die man ihnen aufgetragen hat, nicht blöd vorkommen würden.
Danach kommt eine örtliche Capoeira-Gruppe. Ein Brasilianer Ende zwanzig lässt seine Schützlinge ein paar Übungen vorführen. Etwas Vorzeigbares ist es nicht, aber man bekommt ein Ahnung von Capoeira, dieser brasilianischen Mischung aus Tanz und Kampfsport. Dem Publikum gefällts. Eltern bei der Aufführung eines Schülertheaters, könnte man wohlwollend sagen. Provinziell ist es trotzdem.
Denn Rest des Programms verpassen wir, weil wir mit einem Ehepaar ins Plaudern kommen. Es sind die Eltern der norwegischen Abwehrchefin Maren Mjelde. Und sie sind nett, so nett, dass wir es fast verpassen, rechtzeitig ins Stadion aufzubrechen.
"Das sieht ja aus wie ein Einkaufszentrum", sagt Ö., als wir die Glasfassade der neuen VW-Arena erblicken, und es nicht klar, ob sie das entzückt oder abschreckt. Aber recht hat sie.
Dann geht es endlich los, und Wolfsburg ist vergessen. Als ich meine Lieblingsbrasilianerin, Fabiana, die vor unserer Nase zusammen mit Marta die rechte Seite bearbeitet, lautstark anfeuere, schaut Ö. etwas pikiert. Selbst als Marta, erklärtermaßen Ö.s Favoritin, den Ball erst mit einem Rempler erobert, dann aber eine andere Gegnerin - ausgerechnet Mjelde! - umdribbelt und das 1:0 erzielt, lässt sich Ö. zu keinem orgiastischen Jubel hinreißen. "Viva Marta!", ruft sie in Zimmerlautstärke. Ö. gehört also zu den Frauen, die "Stimmung" mögen, es aber anderen überlassen, für diese zu sorgen. Andererseits: Nach so viel Stimmung ist ihre Blasiertheit wohltuend.
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