Kolumne Ich meld' mich: Laufsteg Sibirien
Die pelzmützenfreie Zeit in Nowosibirsk währt nur kurz. High-Heels und superkurze Miniröcke haschen nach Aufmerksamkeit. Doch der Sommer ist schnell vorrüber.
K urz ist der Sommer in Nowosibirsk, zum Weinen kurz. Aber niemand käme auf die Idee, in Tränen auszubrechen, weil die pelzmützenfreie Zeit, kaum begonnen, bald auch schon wieder vorbei ist. Die paar Wochen - lasst uns das Beste daraus machen!
Das Beste heißt im Fall der Frauen: möglichst wenig. High-high-heeled und in breiten Ledergürteln, die erstaunlicherweise als Miniröcke durchgehen, trippeln sie über den heißen Asphalt am Leninplatz, dass dem Alten im Bronzemantel der Kragen noch enger wird.
Bei „New York Pizza“ stehen sie in der Schlange, blonde Korkenzieherlocken überm durchsichtigen weißen Hosenanzug. In Hotpants, mit der Zange angezogen, promenieren sie über die Straße, plaudern in wasserschlauchförmigen Kostümen scheinbar angeregt miteinander - und behalten doch alles und jeden im Blick. Im kühlen, verträumten, neugierigen Blick.
Vor dem Kino sitzen schwarzhaarige Burjatinnen, eine Flasche „Miller“ in der Hand, und kühlen ihr Tattoo unterm Herzen. Am Salatbuffet im „Traktyr“ werfen sie, in geschrumpftes schwarzes Leder gepackt, tänzelnd die rote Mähne. In Tops, die viel zu lange viel zu heiß gewaschen wurden, drücken sie sich mit Zeitlupen-Augenaufschlag viel zu nahe an einem vorbei.
Selbst die Etagendamen im „Hotel Zentral“, seit Jahrzehnten Bollwerk der An- und Beständigkeit, die hochgeschlossenen Museumswärterinnen mit den „Traue-nichts-und-niemand“-Gesichtern, die Platinblonden in ihren Kioskhöhlen, deren verkniffener Kirsch-Schmollmund ohne Worte sagt: „Rück mir nicht zu nahe, kauf mir bloß nichts weg!“ - selbst bei ihnen scheint sich der eine oder andere Blusenknopf auf geheimnisvolle Weise geöffnet und die eine oder andere Andeutung eins Lächelns versehentlich in die Augenwinkel gestohlen zu haben.
Die alten Frauen auf der Mauer aber, in ihren dicken schwarzen Röcken und den karierten Kopftüchern, die drei Bauernrosen feilhalten und immer noch das Bund Radieschen vom Vormittag, lächeln wissend und ein wenig wehmütig: Die paar Jahre, zum Weinen kurz …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!